Freitag, 12. Januar 2024

In der Stuttgarter Klett-Passage: "Wo bitte ist Gleis 9?"

"Wo bitte ist Gleis 9? Wir brauchen dringend Gleis 9. Hier gibt es nur Gleis 1 bis 4".

Dem Akzent nach kam die Familie aus Holland, die mich ein wenig panisch nach Gleis 9 fragte, als ich am Stuttgarter Hauptbahnhof von der Stadtbahn über die Klett-Passage auf den Linienbus umsteigen wollte. Mit Gleis 1 bis 4 meinte der Familienvater die Gleise der Stadtbahnhaltestelle Hauptbahnhof, die deutlich sichtbar aus Richtung Klett-Passage mit den entsprechenden Nummern beschildert waren.

Für den Bruchteil einer Sekunde verfiel ich in Schockstarre. Denn in der Klett-Passage nach Gleis 9 gefragt zu werden, gehört tatsächlich zu den größten Stuttgarter Peinlichkeiten, ist Auslöser für das größte Fremdschämen, das einem als Stuttgarter widerfahren kann. Die Frage nach Gleis 9 und die Unmöglichkeit, dazu eine passende, knappe Antwort zu geben, ist zudem eine der hässlichsten Manifestationen des Projekts Stuttgart 21, das ja an Peinlichkeiten und Zumutungen nicht gerade arm ist.

Wie soll ich denn den Weg von der Klett-Passage nach Gleis 9 im Stuttgarter Hauptbahnhof erklären?

Geht es vielleicht links herum zu Gleis 9?
Soll ich erklären, dass eine Möglichkeit darin besteht, dass man auf dem "Fernwanderweg" links herum geht? Von der Klett-Passage, in der es kaum Wegweiser zu den Gleisen des Hauptbahnhofs gibt, müsste man erst mal an der Polizeidienststelle vorbeigehen. Nach einigen Metern vollzieht man dann eine 180 Grad-Kehre nach rechts. Dann geht man eine sehr schmale Treppe hinauf zur Oberfläche. Oben angekommen gibt es eine erneute 180 Grad-Kehre nach rechts. Dann geht man zwischen Arnulf-Klett-Platz und der Stuttgart 21-Baustelle dahin. Später geht es dann nach rechts entlang der Heilbronner Straße. Dann erreicht man das LBBW-Gebäude und geht dort in einen der Innenhöfe. Nach rechts gehend verlässt man den Innenhof bald wieder und kommt dann tatsächlich zum Querbahnsteig des Hauptbahnhofs mit Gleis 1. Die Entfernung Klett-Passage (Abgang zur S-Bahn) - Gleis neun (links herum) ist ca. 500 Meter.
 
Oder ist der "Fernwanderweg" rechts herum besser?
Oder soll ich die Möglichkeit rechts herum erklären? Man müsste dann erst mal durch die ganze Klett-Passage gehen und dann die Treppen bzw. Fahrtreppen nach links hinaufgehen. So landet man in der früheren Großen Schalterhalle des Hauptbahnhofs, die jetzt vollständig eingerüstet ist. Man macht dann eine 180 Grad-Drehung nach rechts, um die Große Schalterhalle wieder zu verlassen. Man kommt dann ins Freie und dreht sich nach links. Dann folgt man dem Arnulf-Klett-Platz einige Meter, bis man nach halblinks gehend die Passerelle (den zweiten Fernwanderweg) betritt. Nach einer gefühlt ewigen Zeit kommt man schließlich zum Querbahnsteig des Kopfbahnhofs bei Gleis 16. Die Entfernung Klett-Passage (Abgang zur S-Bahn) - Gleis neun (rechts herum) ist ca. 630 Meter.
 
Warum muss ich für das verkorkste Stuttgart 21 geradestehen?
Warum muss ich überhaupt eine Auskunft zum Weg nach Gleis 9 des wegen Stuttgart 21 verlegten Stuttgarter Hauptbahnhofs geben? Ich habe bei der Volksabstimmung des Landes BW zu Stuttgart 21 mit Ja gestimmt - Ja zum Rückzug Baden-Württembergs aus diesem Projekt. Ich war zwar nicht von Anfang an ab dem Jahr 1994 gegen Stuttgart 21. Später jedoch, als ich mich näher mit der Sache beschäftigte, habe ich das Projekt immer kritischer gesehen. Und ich führe diesen Blog hier zu Stuttgart 21, wobei ich allerdings Wert darauf lege, dass ich nicht fanatisch große Teile meiner Zeit dieser Sache widme. Stuttgart 21 ist eher Nebensache, denn es gibt viele andere, interessantere und wichtigere Bestandteile des Lebens.

Aber bitte schön, sollen doch die Stuttgart 21-Protagonisten und diejenigen, die für Stuttgart 21 gestimmt haben, ihre Warnwesten anziehen, in die Klett-Passage gehen  und dort den Leuten erklären, wie man zu Gleis 9 kommt. In der Klett-Passage gibt es kaum Beschilderungen zum verlegten Kopfbahnhof. Das finde ich ja wirklich ätzend. Man macht einen Murks und zwingt dann die zufällig vor Ort sich befindenden Stuttgart 21-Kritiker, den Murks vor Besuchern aus dem Ausland auch noch mitzutragen und zu rechtfertigen.

"Stuttgart hat sich aufgegeben"
Und was will eigentlich diese Familie aus den Niederlanden in Stuttgart? Es gibt doch in Europa so viele schöne Städte, Städte mit großartiger Bausubstanz, Städte mit einer begeisternden Abfolge von Boulevards und Plätzen, Städte mit erhaltenen oder wiederhergestellten Altstädten, Städte mit großen Bahnhöfen mit vielen Gleisen. Es gibt doch überhaupt keinen Grund, sich bei diesem großartigen Städteangebot in Europa nach Stuttgart zu verirren, einer Stadt, die sich gemäß dem Artikel in der "Welt" vom 20.07.2023 (Tilman Krause, Leitender Feuilletonredakteur) "aufgegeben hat".     

Aus der Schockstarre erwacht.
All diese Gedanken und vielleicht noch mehr liefen in meinem Kopf in Bruchteilen von Sekunden ab. Als ich schließlich aus der Schockstarre erwachte, war die Familie aus den Niederlanden immer noch da und wartete auf eine Antwort. 

Ich sagte: "Sie müssen zum Hauptbahnhof! Oben!". Gleichzeitig hob ich meinen rechten Arm und zeigte mit dem Zeigerfinger nach oben. Mehr war unter den gegebenen Umständen nicht möglich. Da bleibt nur, unterwegs Details des Wegs noch einmal zu erfragen.

Die Familie aus den Niederlanden schien aber mit meiner Antwort zufrieden zu sein. Offen bleibt, ob sie den Weg gefunden haben und jemals bzw. rechtzeitig Gleis 9 erreicht haben.

Offen bleibt auch, wann und ob Stuttgart 21 in der alten, geplanten Form jemals in Betrieb gehen wird.


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