Mittwoch, 11. November 2015
Erhalt des Stuttgarter Kopfbahnhofs ist Voraussetzung für Wettbewerb im Bahn-Fernverkehr
Die Firma Locomore will ab September 2016 Fernverkehrszüge zwischen Stuttgart und Berlin anbieten. Diese Ankündigung von Fernverkehrszügen, die nicht von der Bahn AG betrieben werden, hat immer noch etwas Exotisches an sich. Wäre die Bahnreform richtig und vollständig umgesetzt worden, wären Fernverkehrszüge von Wettbewerbern der Bahn AG längst etwas ganz Normales auf dem deutschen Streckennetz.
Ohne den Erhalt des Stuttgarter Kopfbahnhofs selbst im Fall, dass Stuttgart 21 in Betrieb genommen wird, wäre Wettbewerb im Bahn-Fernverkehr auf Dauer nicht möglich. Dann würde das zarte Pflänzchen Wettbewerb in wenigen Jahren bereits wieder absterben. Diese Feststellung wird durch die aktuellen Entwicklungen in Wien unterstützt. Österreich ist Deutschland in Sachen Wettbewerb im Fernverkehr weit voraus. In Wien wird nach der vollständigen Fertigstelllung des neuen Hauptbahnhofs ab dem 13.12.2015 die private Bahngesellschaft Westbahn ihre Fernzüge weiterhin ab dem Wiener Westbahnhof (Kopfbahnhof) betreiben.
Der Wiener Westbahnhof ist eine wichtige Ergänzung zum überlasteten Hauptbahnhof
Fangen wir mal mit der Situation in Wien an und kommen wir anschließend zu Stuttgart 21.
Der neue Wiener Hauptbahnhof ist nun fertiggestellt. Mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2015 wird der betriebliche Endzustand im Hauptbahnhof beginnen. Der Wiener Hauptbahnhof gilt für die Zeit ab Dezember 2015 bereits als überlastet, obwohl dieser Bahnhof mehr Gleise aufweist als Stuttgart 21 und nicht mehr Züge bewältigen soll als die 32 Züge, die dem Stuttgart 21-Betriebskonzept zugrundeliegen (die Zeitschrift Eisenbahn Österreich berichtete darüber). Hier gibt es verblüffende Parallelen zu Stuttgart 21, das ebenfalls bei einer möglichen Betriebsaufnahme - sagen wir mal im Jahr 2025 - bereits als überlastet gelten muss.
Der Wiener Hauptbahnhof ist zudem schlecht an das öffentliche Verkehrsnetz der Stadt Wien angeschlossen. Die U-Bahnlinie U1 fährt in einem Abstand von 500 Metern am Hauptbahnhof vorbei und ist tendenziell überlastet. Forderungen nach einer Führung der U-Bahnlinie U2 direkt zum Hauptbahnhof wurden von der Wiener Stadtverwaltung abgelehnt.
Zum Glück gibt es in Wien noch den bestehenden Westbahnhof, einen Kopfbahnhof, der in den Jahren 2008 bis 2011 für 200 Mio. Euro grundlegend umgebaut und renoviert worden ist. Der Westbahnhof ist hervorragend an das U-Bahnnetz angeschlossen. Zwei U-Bahnstrecken führen direkt am Westbahnhof vorbei. Vom Westbahnhof werden weiterhin zahlreiche Regionalzüge der Österreichischen Bundesbahnen abfahren.
Vom Westbahnhof aus wird es aber auch zukünftig Fernverkehr geben. Denn die private Bahngesellschaft Westbahn wird ihre stündlich von Wien nach Salzburg verkehrenden Fernzüge weiterhin nicht ab dem Wiener Hauptbahnhof, sondern ab dem Wiener Westbahnhof anbieten. Dafür lassen sich drei Gründe bestimmen.
1. Der Wiener Hauptbahnhof ist bereits mit Betriebsaufnahme überlastet und kann die Züge der Westbahn gar nicht mehr aufnehmen.
2. Der Wiener Westbahnhof ist wesentlich besser an das U-Bahnnetz angeschlossen als der Hauptbahnhof. Die Manager der Westbahn berücksichtigen hier sehr wohl die Bedürfnisse der Fahrgäste. Der größte Teil der Fahrgäste des Fernverkehrs will in Wien aussteigen bzw. einsteigen und nicht durchfahren.
3. Der Westbahnhof ist wesentlich besser als der Hauptbahnhof geeignet, die betrieblichen Erfordernisse der Westbahn kostengünstig zu erfüllen. Die Züge der Westbahn können nach der Ankunft im Westbahnhof dort bis zur planmäßigen Rückfahrt stehen bleiben. Im Hauptbahnhof müssten sie, sofern man für die Züge noch einen Platz findet, relativ rasch irgendwohin weiterfahren, wo sie dann bis zur Rückfahrt warten müssten, um den Betrieb im Hauptbahnhof nicht zu stören.
Kommen wir nun zum Stuttgarter Hauptbahnhof. In Deutschland ist der Wettbewerb im Bahn-Fernverkehr noch nicht so weit vorangeschritten wie in Österreich. Die Bahnreform hatte jedoch auch in Deutschland das Ziel, den Wettbewerb auf der Schiene zu verstärken. Soll die Bahnreform nicht Makulatur sein, muss somit auch beim Ausbau des Bahnknotens Stuttgart darauf geachtet werden, dass zukünftig mehr als heute Wettbewerb auf der Schiene möglich ist.
Die folgenden Punkte sprechen aus der Sicht des Wettbewerbs im Bahn-Fernverkehr für den Erhalt des Stuttgarter Kopfbahnhofs und damit für die Umsetzung einer Art Kombilösung beim Ausbau des Bahnknotens Stuttgart.
1. Die Leistungsfähigkeit des Stuttgart 21-Tiefbahnhofs ist begrenzt
Für den Stuttgart 21-Tiefbahnhof wurden 32 Züge pro Stunde als Leistungsobergrenze nachgewiesen. Diese Leistungsbetrachtung bezieht sich jedoch nur auf den Hauptbahnhof und das engere Umfeld. Die zahlreichen Engstellen des Stuttgart 21-Projekts im weiteren Umfeld des Hauptbahnhofs wie z.B. die höhengleichen Gleiskreuzungen bei Plochingen, die höhengleichen Gleiskreuzungen und die eingleisige Strecke bei der Wendlinger Kurve, die höhengleichen Gleiskreuzungen und die eingleisige Strecke bei Bad Cannstatt Nürnberger Straße sowie das Feuerwerk mit zahlreichen unmittelbar aufeinanderfolgenden Engstellen für die Gäubahn und die S-Bahn im Filderbereich sind hier nicht berücksichtigt.
Es ist somit zu erwarten, dass die Gesamtleistungsfähigkeit von Stuttgart 21 unter 32 Zügen pro Stunde liegt. Dies ist nicht einmal ausreichend, um den heutigen Bedarf an Zügen zu decken. Erst recht ist dies nicht ausreichend, um den in den kommenden 20 bis 40 Jahren zu erwartenden Zuwachs bei der Nachfrage nach Bahnverkehrsleistungen zu decken. Und noch weniger ist dies ausreichend, um neben den Zügen der Bahn AG auch noch Fernzüge von Wettbewerbern fahren zu lassen.
Die Firma Locomore hat für ihren beantragen Zug von Stuttgart nach Berlin und zurück bereits ein Zeitfenster für die Belegung des Stuttgarter Kopfbahnhofs erhalten. Das zeigt, dass der Kopfbahnhof im engeren Sinne Kapazitätsreserven hat. Ausgelastet bzw. überlastet sind dagegen heute bereits die Zulaufstrecken zum Kopfbahnhof.
2. Die Zufahrt Zuffenhausen ist überlastet
Die Zufahrt Zuffenhausen verfügt bei Stuttgart 21 über nur zwei Gleise für den Fern- und Regionalverkehr. Die Leistungsobergrenze für eine Zufahrt zu einem Bahnknoten, die von Fern- und Regionalzügen gemeinsam befahren wird, muss mit 12 bis 13 Zügen pro Gleis und Stunde angesetzt werden. Dieser Wert wird bei der Zufahrt Zuffenhausen in der Spitzenstunde in Lastrichtung bereits heute erreicht.
Eine Bahnknotenzufahrt für Fernverkehrs- und Regionalverkehrszüge ("Magistrale") kann nicht so dicht belegt werden wie eine Strecke, die nur der S-Bahn dient. Das liegt im Wesentlichen daran, dass die Fernverkehrszüge Spielraum brauchen, um bei Verspätungen nicht durch andere Züge noch weiter ausgebremst zu werden. Ein weiterer Grund sind die unterschiedlich hohen Geschwindigkeiten zwischen TGV, ICE, IC und IRE auf der Schnellfahrstrecke von Vaihingen/Enz nach Stuttgart sowie zwischen RB und RE auf der Strecke von Heilbronn nach Stuttgart. Diese unterschiedlich hohen Beförderungsgeschwindigkeiten führen dazu, dass in der Zufahrt Zuffenhausen allein schon aus betrieblichen Gründen größere Zeitlücken zwischen zwei Zügen auftreten können. Sie sind teilweise wesentlich größer als die Zeitlücke von 2,5 Minuten auf der Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn. 12 Züge pro Gleis und Stunde bedeuten immerhin auch schon eine durchschnittliche Zugfolge von 5 Minuten.
Es gibt in der Tat in ganz Deutschland und auch im Ausland keine Zufahrt für Fern- und Regionalzüge zu einem Bahnknoten, die eine größere Belastung als 13 Züge pro Stunde und Gleis aufweist. Das wurde in diesem Blog an Hand der Beispiele Hohenzollernbrücke Köln und Durchmesserlinie Zürich bereits ausführlich gezeigt.
Die bestehende Situation bei der Zufahrt Zuffenhausen erlaubt es nicht, wesentliche Fortschritte beim Wettbewerb im Fernverkehr der Bahn zu machen oder auch nur die Angebote im Bahnverkehr signifikant auszuweiten. Die Firma Locomore hat von der Bahn AG bereits eine Fahrplantrasse für die Zufahrt Zuffenhausen erhalten. Das war aber nur deshalb möglich, weil die geplanten Fernzüge der Firma Locomore entgegen der Lastrichtung fahren (morgens stadtauswärts im Bereich der Zufahrt Zuffenhausen, abends stadteinwärts im Bereich der Zufahrt Zufffenhausen).
Die Zufahrt Zuffenhausen muss dringend viergleisig für den Fern- und Regionalverkehr ausgebaut werden. Das ist sinnvoll nur im Rahmen einer Kombilösung möglich, bei der zwei Gleise in den Stuttgart 21-Tiefbahnhof (dann anstatt acht nur sechs Bahnsteiggleise, jedoch mit breiteren Bahnsteigen) und zwei Gleise in den Kopfbahnhof geführt werden.
3. Der Kopfbahnhof ermöglicht es, Züge kurzzuwenden (Ping-Pong-Verkehre)
Für Wettbewerber der Bahn im Fernverkehr sind Pendelverkehre zwischen zwei Großstadtbahnhöfen interessant (Ping-Pong-Verkehre). Der Kopfbahnhof ermöglicht es, diese Verkehre kostengünstig zu betreiben. Denn der Zug kann nach seiner Ankunft im Kopfbahnhof dort in vielen Fällen bis zur planmäßigen Rückfahrt stehen bleiben.
Bei Stuttgart 21 können die Züge nicht im Hauptbahnhof bis zur Rückfahrt stehen bleiben. Vielmehr müssen die Züge aus dem Hauptbahnhof erst mal in irgendeinen Abstellbereich gefahren werden, der mehrere bis viele Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt ist. Von dort müssen sie dann wieder zurückgefahren werden. Das alles kostet Zeit und schließlich auch Geld, das für den Einsatz zusätzlicher Züge sowie für die zusätzlichen Trassengebühren anfällt.
4. Dieselbetrieb im Stuttgarter Hauptbahnhof
Wettbewerber der Bahn setzen gerne Diesefahrzeuge ein. Denn diese Fahrzeuge sind preiswerter zu bekommen als Elektrotriebwagen. Im Stuttgarter Kopfbahnhof ist der Dieselbetrieb uneingeschränkt möglich. Bei Stuttgart 21 ist der Dieselbetrieb im unterirdischen Hauptbahnhof nicht mehr möglich. Der Erhalt des Kopfbahnhofs ist somit die Voraussetzung für einen funktionierenden Wettbewerb auf der Schiene.
Hier wird gerne der Einwand gebracht, dass der Dieselbetrieb Abgase erzeugt. Das ist zwar prinzipiell richtig. Dieselzüge erzeugen pro befördertem Fahrgast trotzdem wesentlich weniger Abgase als z.B. Pkw. Wollte man Dieselzüge verbieten, müsste man konsequenterweise auch den gesamten Busverkehr verbieten.
5. Die Wettbewerber der Bahn müssen auch in Stuttgart einen Bahnhof ohne Gleisneigung erwarten können
Der Stuttgart 21-Tiefbahnhof hat eine Gleisneigung, die das sechsfache des nach den nationalen Richtlinien empfohlenen Werts beträgt. Der Stuttgart 21-Tiefbahnhof ist der einzige Knotenbahnhof in Europa mit einer solchen Gleisneigung. Die Gleisneigung in Bahnhöfen ist ansonsten fast überall so bemessen, dass Züge auf keinen Fall wegrollen können. Das heißt, dass die Gleise in Knotenbahnhöfen europaweit horizontal weitgehend ohne Gleisneigung verlegt sind.
Wettbewerber der Bahn müssen darauf bauen können, dass alle Knotenpunktsbahnhöfe in Europa gleich gebaut sind - im speziellen Fall ohne Gleisneigung. Es ist den Wettbewerbern der Bahn nicht zumutbar, nur für den Stuttgarter Hauptbahnhof besondere Einrichtungen an den Fahrzeugen anzuschaffen und das Fahrpersonal besonders zu instruieren.
Auch in Bezug auf das Thema Gleisneigung ist somit der Erhalt des Stuttgarter Kopfbahnhofs die Grundvoraussetzung für Wettbewerb im Bahn-Fernverkehr.
Die Problematik von Stuttgart 21 wird einmal mehr deutlich
An Hand des Wettbewerbs im Bahn-Fernverkehr wird somit die Problematik von Stuttgart 21 einmal mehr deutlich. Dieses Projekt führt nicht nur zu einem Engpass im Bahnverkehr mit deutschlandweiten Auswirkungen. Dieses Projekt verunmöglicht auch den geplanten Deutschlandtakt (integraler Taktfahrplan). Das Projekt ist zudem nicht in der Lage, die zu erwartenden großen Steigerungen bei den Fahrgastzahlen der Bahn in den kommenden Jahrzehnten aufzunehmen. Darüber hinaus behindert das Projekt den Wettbewerb im Bahn-Fernverkehr, der gemäß Bahnreform eigentlich gefördert werden muss.
Damit sind doch genügend Gründe beisammen, dass sich jetzt das zuständige Bundesverkehrsministerium intensiv mit der Sache beschäftigt und den Erhalt des Kopfbahnhofs in Stuttgart sowie eine Kombilösung für den Bahnknoten Stuttgart durchsetzt.
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