Samstag, 17. Februar 2018

Die wegen Stuttgart 21 fehlende dritte Stammstrecke der Stadtbahn führt zu einer Reihe von Verlegenheitslösungen

Die in diesen Tagen in Stuttgart gerade aktuelle Planung einer neuen Schnellbuslinie von Bad Cannstatt in die Innenstadt - parallel zu bestehenden Schienenstrecken der S-Bahn und der Stadtbahn - und die damit verbundene aktuelle Diskussion um den Wegfall von Fahrstreifen für den allgemeinen Kraftfahrzeugverkehr in Bad Cannstatt ist eines von mehreren Anzeichen dafür, dass das Netz der Stuttgarter Stadtbahn mindestens eine Stammstrecke zu wenig aufweist.

Was hat das Thema der fehlenden dritten Stammstrecke bei der Stuttgarter Stadtbahn in einem Blog über Stuttgart 21 zu suchen?
Dieses Thema hängt sehr wohl mit Stuttgart 21 zusammen. Stuttgart 21 wurde im Jahr 1994 überfallartig der Öffentlichkeit präsentiert. Nehmen wir mal an, dass Stuttgart 21 mindestens seit Ende der Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinter den Kulissen vorbereitet worden ist. 

Dann würde das Projekt Stuttgart 21 jetzt seit ca. 30 Jahren die verkehrliche Diskussion in Stuttgart bestimmen sowie die Resourcen der Politik, der Exekutive, der öffentlichen Haushalte und der interessierten Bevölkerung an sich ziehen. Das bedeutet dann jedoch auch, dass diese Resourcen wegen Stuttgart 21 von anderen, eigentlich für Stuttgart anstehenden dringlichen Verkehrsthemen abgezogen wurden und weiterhin werden.

Zu diesen Verkehrsthemen gehört die Struktur des Stadtbahnnetzes mit der fehlenden dritten Stammstrecke, die Struktur des S-Bahnnetzes mit der fehlenden direkten Durchbindung im Verlauf der württembergischen Hauptschienenachse Esslingen-Bad Cannstatt-Hauptbahnhof-Zuffenhausen-Ludwigsburg und die Struktur des Straßennetzes mit den fehlenden Straßenringen und der Überbetonung der Radialstraßen sowie der Parkmöglichkeiten in der Innenstadt. Die öffentliche Abwesenheit dieser dringenden Verkehrsthemen als Folge von Stuttgart 21 hat inzwischen dazu geführt, dass Stuttgart unter den Großstädten in Deutschland und in Europa bei Verkehrsthemen zum Außenseiter geworden ist.


Die Herleitung der Notwendigkeit der dritten Stammstrecke der Stadtbahn durch Vergleiche mit den Netzen anderer Städte
Wie kann man das Fehlen einer dritten Stammstrecke für die Stuttgarter Stadtbahn herleiten? Dafür gibt es mehrere Ansätze. Ein Ansatz besteht darin, dass man sich die Struktur der Netze der städtischen Schienenverkehrsmittel anderer Städte ansieht und sie mit Stuttgart vergleicht.

Als erstes sehen wir uns die Zahl der Stammstrecken in den größten Städten Deutschlands an (die Städte sind in der Reihenfolge der Einwohnerzahlen aufgelistet). 

Berlin: 8 Stammstrecken bei der U-Bahn, mindestens 3 Stammstrecken bei der Straßenbahn
Hamburg: 3 Stammstrecken bei der U-Bahn
München: 3 Stammstrecken bei der U-Bahn, 3 Stammstrecken bei der Tram
Köln: 4 Stammstrecken bei der Stadtbahn
Frankfurt am Main: 3 Stammstrecken bei der U-Bahn, 2 Stammstrecken bei der Straßenbahn
Stuttgart: 2 Stammstrecken bei der Stadtbahn
Düsseldorf: 3 Stammstrecken bei der Stadtbahn, mindestens 3 Stammstrecken bei der Straßenbahn
Dortmund: 3 Stammstrecken bei der Stadtbahn
Essen: 1 Stammstrecke bei der Stadtbahn, 2 Stammstrecken bei der Straßenbahn
Leipzig: 4 Stammstrecken bei der Straßenbahn
Bremen: 3 Stammstrecken bei der Straßenbahn
Dresden: 3 Stammstrecken bei der Straßenbahn
Hannover: 3,5 Stammstrecken bei der Stadtbahn
Nürnberg: 2 Stammstrecken bei der U-Bahn, mindestens 2 Stammstrecken bei der Straßenbahn
Duisburg: 1 Stammstrecke bei der Stadtbahn, 1 Stammstrecke bei der Straßenbahn
Bochum: 3 Stammstrecken bei der Stadtbahn

Man sieht bei diesem Vergleich, dass Stuttgart - zusammen mit Duisburg - das Schlusslicht unter den großen deutschen Städten darstellt, wenn es um die Zahl der Stammstrecken beim städtischen Schienenverkehrsmittel geht.

Der zweite Teil des Vergleichs mit den Netzen anderer Großstädte beinhaltet den Quotienten zwischen der Zahl der Streckenzweige und der Zahl der Stammstrecken eines Netzes. Je kleiner dieser Quotient ist, desto leistungsfähiger, stabiler, pünktlicher und betriebsregelmäßiger ist ein Schienennetz. Man vergleiche hierzu durchaus auch mit einem Baum, bei dem das Verhältnis zwischen dem Stammdurchmesser, den Durchmessern der Äste und den Durchmessern der Zweige in einem ausgewogenen Verhältnis stehen muss, wenn dieser Baum nicht eines Tages umknicken soll.

Berlin: 16 durch 8 = 2 (U-Bahn) sowie 18 durch 3 = 6 (Straßenbahn)
Hamburg: 8 durch 3 = 2,67
München: 12 durch 3 = 4 (U-Bahn) sowie 14 durch 3 = 4,67 (Straßenbahn)
Köln: 18 durch 4 = 4,5
Frankfurt am Main: 11 durch 3 = 3,67 (U-Bahn) sowie 12 durch 2 = 6 (Straßenbahn)
Stuttgart: 18 durch 2 = 9*
Düsseldorf: 12 durch 3 = 4 (Stadtbahn) sowie 12 durch 3 = 4 (Straßenbahn)
Dortmund: 11 durch 3 = 3,67
Essen: 4 durch 1 = 4 (Stadtbahn) sowie 10 durch 2 = 5 (Straßenbahn)
Leipzig: 17 durch 4 = 4,25
Bremen: 12 durch 3 = 4
Dresden: 17 durch 3 = 5,67
Hannover: 18 durch 3,5 = 5,14
Nürnberg: 6 durch 2 = 3 (U-Bahn) sowie 9 durch 2 = 4,5 (Straßenbahn)
Duisburg: 5 durch 2 = 2,5
Bochum: 10 durch 3 = 3,33

* nur von Tangentiallinien befahrene Abschnitte (Plieningen, Wallgraben-Vaihingen, Cannstatter Wasen usw.) wurden nicht mitgezählt. Sonst wäre der Quotient noch größer.

Der Vergleich zeigt, dass die Stuttgarter Stadtbahn das ungünstigste Verhältnis zwischen der Zahl der Streckenzweige und der Zahl der Stammstrecken hat. In Bezug auf den Baumvergleich müsste man sagen, dass bei der Stuttgarter Stadtbahn der Stammdurchmesser zu klein ist. Dieser Baum läuft Gefahr, zusammenzubrechen.

Die Verlegenheitslösung U19
Ein anderer Ansatz zur Herleitung der Notwendigkeit einer dritten Stammstrecke für die Stuttgarter Stadtbahn besteht darin, dass man sich aktuelle Lösungen ansieht, mit denen man das öffentliche Verkehrsmittel in Stuttgart leistungsfähiger machen will. Dazu gehört auch die Linie U19. 

Die Stadtbahnlinie U2 ist im Bereich Bad Cannstatt werktags vor allem während des Berufsverkehrs überlastet. In Städten, die eine ausreichende Zahl an Stammstrecken bei ihrem städtischen Schienenverkehrsmittel aufweisen, würde man in einem solchen Fall dergestalt reagieren, dass man den 10-Minuten-Takt der U2 durch einen 7,5-Minuten-Takt ersetzt. Das würde der Überlastung der U2 zunächst mal ein Ende setzen.

Wegen der fehlenden dritten Stammstrecke für die Stadtbahn und wegen der Überlastung der beiden bestehenden Stammstrecken kann man eine solche Taktverdichtung bei der Stuttgarter Stadtbahn aber nicht durchführen. Statt dessen musste man die neue Linie U19 einrichten, die vom Wilhelmsplatz Bad Cannstatt aus nicht in Richtung Innenstadt, sondern zum Cannstatter Wasen fährt. Dumm nur, dass dort eigentlich niemand hin will (die Züge dorthin sind zumindest tagsüber fast leer). Dumm auch, dass man mit der U19 im Streckenabschnitt mit der U2 gleich eine Halbierung des Taktes vornehmen muss, anstatt stufenweise vorzugehen und erst mal den 7,5-Minuten-Takt einzuführen.

Die Verlegenheitslösung einer neuen Buslinie parallel zu S-Bahn und Stadtbahn
Es ist geplant, zwischen dem Wilhelmsplatz Bad Cannstatt und der Innenstadt eine neue Buslinie einzurichten. Besser kann man das Fehlen einer dritten Stammstrecke für die Stadtbahn nicht beweisen.

Hätte die Stuttgarter Stadtbahn ausreichende Kapazitäten, somit also eine ausreichende Zahl an Stammstrecken, könnte man die U1, die U2 und die U14 jeweils im 7,5-Minuten-Takt fahren lassen. Dann bräuchte man keine radiale Buslinie zusätzlich zu einer radialen Stadtbahnstrecke und einer radialen S-Bahnstrecke. Ergänzt würde das Ganze um die in diesem Blog bereits mehrfach angesprochene zweite Stammstrecke der S-Bahn, die die Hauptachse des württembergischen Schienennetzes (Esslingen-Bad Cannstatt-Hauptbahnhof-Zuffenhausen-Ludwigsburg) nachbildet. 

Die mögliche Verlegenheitslösung U34
Im Rahmen der gerade laufenden Stuttgart 21-Baustufe wurde eine Stadtbahnlinie U34 eingerichtet, die die Streckenäste zum Vogelsang und zum Südheimer Platz bedient und hierbei am Rand der Innenstadt (Rotebühlplatz) vorbeifährt. Hier geht es jetzt nicht darum, die Gründe für das Bestehen der U34 in der aktuellen Baustufe nachzuvollziehen.

Es geht vielmehr darum, dass möglicherweise jemand auf die Idee kommen wird, die U34 dauerhaft einzurichten. Wäre dies so, müsste man auch hier von einer Verlegenheitslösung sprechen. Die richtige Lösung wäre, dass man beim Vogelsanger Ast die U2 und die U9 auf den 7,5-Minuten-Takt verdichtet, ebenso beim Heslacher Ast die U1 und die U14. Das aber kann man nur machen, wenn man eine ausreichende Zahl an Stammstrecken hat. 

Die Verlegenheitslösung der Anbindung des Streckenasts Nordbahnhofstraße
Im Dezember vergangenen Jahres wurde die Anbindung des Streckenasts der Nordbahnhofstraße über die neue Haltestelle Budapester Platz an die zweite Stammstrecke in Betrieb genommen. Auch hier muss man von einer Verlegenheitslösung sprechen. Hätte man in den vergangenen 30 Jahren eine dritte Stammstrecke für die Stuttgarter Stadtbahn entwickeln können, bräuchte es diese Verlegenheitslösung nicht.

Dann hätte man den Ast der Nordbahnhofstraße direkt an eine dritte Stammstrecke im Verlauf der ehemaligen Straße "Am Schlossgarten" anbinden können. Diese Anbindung wäre in Richtung Hauptbahnhof sogar kürzer als die jetzt neu in Betrieb genommene Anbindung.

Zudem braucht das Nordbahnhofviertel nicht nur eine, sondern zwei Stadtbahnlinien. Man hätte dann zusätzlich zur heutigen U12 auch die heutige U15 durch das Nordbahnhofviertel führen können. Wegen der direkten Führung zum Hauptbahnhof wären die Einwohner von Stammheim und Zuffenhausen dann trotz der Führung über die Nordbahnhofstraße genauso schnell am Hauptbahnhof wie bei der heutigen Führung über die Heilbronner Straße.

Es besteht zudem ein starker Bedarf nach einer Direktverbindung vom Nordbahnhofviertel zum Pragsattel, die das heute erforderliche, ganz umständliche Umsteigen beim Löwentor vermeidet. Die Führung der U15 über das Nordbahnhofviertel hätte diese Direktverbindung gebracht. 

Die beiden Stammstrecken der Stadtbahn sind längst überlastet
Ein dritter Ansatz zur Herleitung der Notwendigkeit einer dritten Stammstrecke umfasst die Beobachtung des Bestands mit den zwei bestehenden Stammstrecken.
 
Der Kern des Stuttgarter Stadtbahnnetzes ist nicht nur nicht in der Lage, zusätzliche Verkehre aufzunehmen. Beide Stammstrecken der Stadtbahn sind bereits überlastet. Das spürt man als Fahrgast bei dem oft quälend langsamen Fahrtablauf bei der Durchfahrt durch die Stammstrecken. Immer wieder wird ein Zug durch einen vorausfahrenden Zug behindert.

Kommt im Verlauf der ersten Stammstrecke noch die Veranstaltungslinie U11 hinzu, kann von einer ausreichenden Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit bei allen fünf ständig dort verkehrenden Stadtbahnlinien keine Rede mehr sein. Dann sind Verspätungen bei diesen Linien von fünf bis sieben Minuten, die sich bis in die letzte Verästelung fortsetzen, keineswegs eine Ausnahme.

Immer noch sind die Stuttgarter Politiker mit dem Wundenlecken in Sachen Stuttgart 21 befasst und nicht in der Lage, strategische Entscheidungen für die Verkehrszukunft zu treffen
Stuttgart 21 wirkt sich nach wie vor negativ auf die Entscheidungsfähigkeit des Stuttgarter Gemeinderats bei Strategiefragen des Verkehrs aus. Man ist nach wie vor hauptsächlich mit Stuttgart 21 beschäftigt.

Das kann konkret darin bestehen, dass man an die Projektförderungspflicht bei Stuttgart 21 denkt und alles unterlässt, was dieses Projekt irgendwie in einem negativen Licht dastehen lassen würde oder was einem Probleme mit der Bahn eintragen könnte.

Das kann auch darin bestehen, dass man mit Grausen an mögliche zusätzliche städtische Zahlungen für das Projekt Stuttgart 21 denkt, die den zukünftigen Gestaltungsspielraum Stuttgarts weiter einengen oder gar ganz zuschnüren.

Das kann schließlich darin bestehen, dass man aus lauter Ärger über die ständigen Terminverschiebungen und Kostenerhöhungen bei Stuttgart 21 nicht mehr zu objektiven strategischen Entscheidungen fähig ist.

Das kann nicht zuletzt aber auch darin bestehen, dass man alles vermeiden will, um den Kritikern von Stuttgart 21 auch nur teilweise recht zu geben.

Und so warten wir Bürger von Stuttgart nach wie vor auf wichtige strategische Entscheidungen des Gemeinderats zur Verkehrszukunft von Stuttgart, zur dritten Stammstrecke für die Stadtbahn, zur zweiten Stammstrecke für die S-Bahn sowie zum Mittleren Ring und dem damit verbundenen Rückbau der Radialstraßen und der Parkmöglichkeiten im Talkessel.

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