Das Ergebnis der Analyse und des Vergleichs kann man gleich vorwegnehmen. Bei der Bahnanbindung des Münchner Flughafens wurde und wird alles richtig gemacht. Bei Stuttgart 21 dagegen stolpert man von einem Fehler zum nächsten. Das gilt für die Bahnanbindung des Stuttgarter Flughafens ebenso wie für das Projekt Stuttgart 21 als Ganzes.
Die Analyse der Bahnanbindung des Münchner Flughafens gliedert sich in fünf Teile:
- Wie wird auf Kostenexplosionen reagiert?
- Wie wird das Baurecht bei komplexen Projekten gehandhabt?
- Ist das Projekt in einzelne Module zerlegbar und etappierbar?
- Wie ist die Struktur der Bahnanbindung des Flughafens?
- Welcher Ausbaustandard wird gewählt? Welche Rolle spielen Engstellen?
Kosten und Kostenexplosionen
Bei diesem ersten Punkt der Anlayse gilt es zunächst mal, den Transrapid in Erinnerung zu rufen. Die Pläne für eine Transrapid-Trasse zwischen dem Münchner Flughafen und dem Münchner Hauptbahnhof sind im Jahr 2008 storniert worden, nachdem für dieses Vorhaben eine Kostenexplosion prognostiziert worden ist.
In München und in Bayern ist man also durchaus bereit und in der Lage, ein Verkehrsvorhaben aufzugeben, wenn die Kosten explodieren. Auch die geplante zweite Stammstrecke der Münchner S-Bahn muss bei dieser Thematik genannt werden. Die zweite Stammstrecke der Münchner S-Bahn hat durchaus etwas mit der Bahnanbindung des Münchner Flughafens zu tun, denn sie wird die Fahrzeit zwischen dem Münchner Flughafen und dem Münchner Hauptbahnhof verkürzen. Die Politik in Bayern macht den Bau der Zweiten Stammstrecke der Münchner S-Bahn davon abhängig, dass nach menschlichem Ermessen keine Kostenexplosionen auftreten.
Hierzu hat man abgewartet, bis die Planfeststellungsbeschlüsse zu allen Teilen der Zweiten Stammstrecke vorliegen. Seit dem 25.04.2016 ist dies der Fall. Der erste Planfeststellungsbeschluss für einen Abschnitt der Zweiten Stammstrecke erfolgte bereits 2009. Auf der Basis aller Planfeststellungsbeschlüsse sollen nun die Baufirmen zur Abgabe von Kostenschätzungen gebeten werden. Diese Kostenschätzungen werden relativ genau sein, so dass böse Überraschungen während der Bauzeit zumindest minimiert werden.
Bei Stuttgart 21 gab es diese Abläufe nicht. Prompt wurde und wird das Projekt von Kostenexplosionen heimgesucht. Die Größe und Weitsicht, das Projekt Stuttgart 21 als Folge der Kostenexplosionen zu stoppen, hatte und hat man in Baden-Württemberg und Stuttgart aber (bisher) nicht.
Wie wird das Baurecht bei komplexen (Alles-oder-Nichts-)Projekten gehandhabt?
Große Verkehrsprojekte sollten wenn immer möglich etappierbar sein. Sie sollen aus einzelnen Modulen bestehen. Das sind Teilabschnitte mit einem eigenständigen verkehrlichen Wert, die in Betrieb genommen werden können, ohne dass andere, benachbarte Module fertiggestellt sein müssen.
Wenn eine Zerlegung eines Großprojekts in einzelne Module im Ausnahmefall nicht möglich ist, soll mit dem Großprojekt erst dann begonnen werden, wenn für alle Teile des Großprojekts ("Alles-oder-Nichts-Projekt") die Baugenehmigung (Planfeststellung) vorliegt.
Bei der Zweiten Stammstrecke der Münchner S-Bahn, die ein nicht in einzelne Module zerlegbares Großprojekt darstellt (wenngleich dieses Projekt glücklicherweise nicht die Dimensionen von Stuttgart 21 erreicht), wurde und wird sehr auf die o.a. Feststellungen geachtet. Niemals stand es zur Diskussion, dass nach dem Erlass des Planfeststellungsbeschlusses für den ersten Abschnitt im Jahr 2009 bereits mit den Bauarbeiten begonnen wird. Unter allen Politikern war es unbestritten, dass ein Baubeginn erst dann erfolgen kann, wenn die Baugenehmigung für alle Abschnitte vorliegt. Nur mit dieser Vorgehensweise kann vermieden werden, dass man später mal vor einer Bau- oder Funktionsruine steht. Zudem ist die Zweite Stammstrecke der Münchner S-Bahn ein normales Bahnprojekt, das nicht die bei Stuttgart 21 erforderlichen zahlreichen Ausnahme- und Sondergenehmigungen benötigt. Auch dadurch wird das Risiko einer späteren Bau- und Funktionsruine minimiert.
Das Projekt München 21, mit dem interessierte Kreise der Landeshauptstadt München und dem Freistaat Bayern ein verkapptes, hundsteures Bahnrückbauprojekt aufzwingen wollten, wurde von der Politik in Bayern abgelehnt. Denn dieses Projekt erfüllte nicht einmal ansatzweise die Voraussetzungen der Etappierbarkeit, der Kostenvertretbarkeit und der Förderung des Bahnverkehrs.
Beim Projekt Stuttgart 21 verläuft alles genau gegenteilig. Mit dem Bau wurde bereits begonnen, als noch längst nicht für alle Bauabschnitte die Baugenehmigung vorlag. Bis heute ist dies nicht der Fall. Dabei ist Stuttgart 21 das Musterbeispiel eines extremen Alles-oder-Nichts-Projekts. Weitere Gefahren, die eine spätere Bau- und Funktionsruine fördern, stellen die zahlreichen erforderlichen Ausnahme- und Sondergenehmigungen dar. Diese Genehmigungen sollen teilweise erst zu einem späteren Zeitpunkt erteilt werden (z.B. bei den Themen Brandschutz oder Gleisneigung). Da steht man vor einer schlimmen Alternative. Entweder werden diese Genehmigungen nicht erteilt. Damit hätte man eine Bauruine. Oder es steigt der Druck auf die Genehmigungsbehörden übermäßig stark, die Ausnahmegenehmigungen doch irgendwie zu erteilen. Auch das ist nicht gerade vertrauenserweckend.
Die Etappierbarkeit der Bahnanbindung des Münchner Flughafens
Die Bahnanbindung des Münchner Flughafens besteht aus eigenständigen Modulen. Jedes Modul kann in Betrieb genommen werden und entfaltet seinen Nutzen, ohne dass es hierzu der Fertigstellung anderer Module bedarf.
1. Im Jahr 1992 wurde der bestehende Außenast der Münchner S-Bahn nach Ismaning zum Flughafen verlängert und gleichzeitig die Strecke innerhalb von Ismaning in einen Tunnel verlegt.
2. Mit steigendem Verkehrsaufkommen am Flughafen wurde im Jahr 1998 eine zweite S-Bahnstrecke und S-Bahnlinie zum Flughafen eröffnet. Diese Strecke zweigt vom Außenast Freising der S-Bahn ab. Mit der zweiten Strecke zum Flughafen wurden gleich drei Dinge erreicht. Es fuhren mehr Züge zum Flughafen, was eine größere Kapazität der S-Bahnanbindung bedeutet. Zum Zweiten wurden wegen der zusätzlichen Züge die Wartezeiten auf die S-Bahn am Flughafen und in der Münchner Innenstadt verkleinert, was zu einer Verringerung der Reisezeit beitrug. Und drittens wurden mit der zweiten S-Bahnstrecke neue Gebiete in der Region München und in der Landeshauptstadt München direkt an den Flughafen angebunden.
3. Am 27. Oktober 2014 erfolgte der erste Spatenstich für die Neufahrner Gegenkurve. Fertigstellung soll 2018 sein. Die Neufahrner Gegenkurve ermöglicht die Führung einer dritten S-Bahnstrecke sowie S-Bahnlinie zum Münchner Flughafen. Die Strecke von Regensburg-Landshut-Freising wird damit direkt an den Flughafen angeschlossen. Damit wird es einerseits möglich, stündliche Züge (sogenannter Flughafenexpress = Express-S-Bahn) aus Ostbayern direkt zum Flughafen zu führen. Andererseits wird auch eine S-Bahnlinie von Freising zum Flughafen möglich.
4. Der sogenannte Erdinger Ringschluss stellt die vierte S-Bahnstrecke bzw. S-Bahnlinie zum Flughafen dar. Die bestehende S-Bahnführung aus Richtung Westen zum Flughafen soll in Richtung Osten durchgebunden und bis Erding geführt werden. Erding ist bereits das Ende eines Außenasts der S-Bahn, der für die Aufnahme zusätzlicher Züge zum Flughafen ausgebaut werden soll. Seit dem Jahr 2015 läuft das Planfeststellungsverfahren für die Strecke vom Flughafen nach Erding.
5. Schließlich gibt es mit der Walpertskirchner Spange eine fünfte zukünftige S-Bahnstrecke bzw. S-Bahnlinie zum Flughafen. Die Walpertskirchner Spange ermöglicht es Zügen, die von Mühldorf, Freilassung und Salzburg kommen, über Erding von Osten den Flughafenbahnhof zu erreichen (sogenannter Flughafenexpress = Express-S-Bahn).
6. Nach Inbetriebnahme der Zweiten Stammstrecke der Münchner S-Bahn gibt es eine neue Express-S-Bahn vom Münchner Hauptbahnhof und von der Münchner Innenstadt zum Flughafen über den Ismaninger Streckenast.
Auch beim Stuttgarter Flughafen hätte diese Jahrhundertchance des etappierbaren Ausbaus der S-Bahnanbindung mit dem stufenweisen Bau zusätzlicher S-Bahnstrecken bestanden. Sofort nach der Inbetriebnahme der ersten S-Bahnstrecke zum Flughafen im Jahr 1993 hätte man sich daranmachen können, weitere S-Bahnstrecken zu planen. Von der bestehenden S-Bahnstation am Flughafen hätte man eine zweite S-Bahnstrecke entlang der Autobahn A8 und eine Wendlinger Kurve nach Nürtingen bauen können. Dann hätte man eine dritte S-Bahnstrecke ebenfalls entlang der A8 und eine Wendlinger Gegenkurve nach Plochingen bauen können. Darauf hätte man eine vierte S-Bahnstrecke vom Flughafen entlang der A8 bis nach Kirchheim/Teck bauen können. Eine fünfte S-Bahnstrecke hätte man über die Rohrer Kurve und Böblingen bis nach Nagold und Calw bauen können. Schließlich hätte man auch eine Express-S-Bahn vom Flughafen über Vaihingen zum Hauptbahnhof einrichten können.
Das alles hat man nicht gemacht. Statt dessen hat man sich für das Alles-oder-Nichts-Projekt Stuttgart 21 entschieden. Die Fertigstellung eines Alles-oder-Nichts-Projekts steht in den Sternen. Stuttgart 21 beeinträchtigt sogar den Verkehr auf der einzigen bestehenden S-Bahnstrecke zum Flughafen. Den Gipfel der Unvernunft stellt die Verbindung des (dringend notwendigen) Ausbaus des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm mit dem Projekt Stuttgart 21 dar, indem man als Ausbauvariante die H-Trasse (Heimerl-Trasse, heutige NBS Wendlingen-Ulm) gewählt hat.
Welche verkehrliche Struktur sollte für die Bahnanbindung eines Flughafens gewählt werden?
Der Münchner Flughafen wird über verschiedene S-Bahnstrecken und zukünftig auch mit der Express-S-Bahn nicht nur an den Münchner Hauptbahnhof und an die Innenstadt, sondern auch an weitere Bahnknoten in der Umgebung angebunden.
Das ist die für Flughäfen weltweit passende Bahnanbindung. Ein genügend großer Flughafen muss mit einem schnellen Verkehrsmittel (S-Bahn, Express-S-Bahn, U-Bahn, von mir aus auch Transrapid) an den nächsten Bahnknoten und an die Innenstadt angebunden werden. Fakultativ kann der Flughafen auch an weitere Bahnknoten in der Umgebung angebunden werden.
Auf keinen Fall sollten bestehende Fern- und Regionalzugtrassen über den Flughafen umgeleitet werden. Das würde für die Mehrzahl der Fahrgäste Umwege bedeuten. Zudem würde eine solche Umleitung im wahrsten Wortsinn eine Verbeugung der Bahn vor ihrem Konkurrenten Luftverkehr darstellen.
Leider wird beim Projekt Stuttgart 21 genau dies gemacht. Die Anbindung des Flughafens durch die S-Bahn wird nicht gestärkt, sondern im Gegenteil geschwächt. Statt dessen werden bestehende Fern- und Regionalzugstrecken über den Flughafen umgeleitet. Das gilt nicht nur für die Gäubahn, sondern auch für den Verkehr Stuttgart-Ulm und Stuttgart-Tübingen, wobei bei den beiden Letztgenannten die Umleitung nicht nur horizontal, sondern auch vertikal stattfindet.
Ausbaustandard und Engstellen
Bei der Bahnanbindung des Münchner Flughafens werden Engstellen weitestgehend vermieden bzw. nachträglich abgebaut.
- Die Abzweigung der zweigleisigen Strecke zum Flughafen (Neufahrner Kurve) von der Strecke nach Freising erfolgt höhenfrei (Überwerfungsbauwerk).
- Die Abzweigung der zweigleisigen Strecke zum Flughafen (Neufahrner Gegenkurve) von der Strecke von Freising erfolgt zukünftig höhenfrei (Überwerfungsbauwerk).
- Die Zusammenführung der zweigleisigen Neufahrner Kurve mit der zweigleisigen Neufahrner Gegenkurve erfolgt zukünftig höhenfrei (Überwerfungsbauwerk).
- Die Strecke von Freising bis zur Neufahrner Gegenkurve wird viergleisig ausgebaut.
- Die Zusammenführung der Strecken von Ismaning und von der Freisinger Strecke zum Flughafen erfolgt zur Zeit noch höhengleich. Sie soll durch eine höhenfreie Führung (Überwerfungsbauwerk) ersetzt werden. Der Planfeststellungsbeschluss hierfür ist im Februar 2016 ergangen. Der Baubeginn soll in Kürze erfolgen.
- Die Strecke vom Flughafen nach Erding (Erdinger Ringschluss) soll zweigleisig sein.
Ganz anders sieht es da bei Stuttgart 21 aus. Bei der Wendlinger Kurve gibt es für die Züge von Tübingen zum Flughafen einen eingleisigen Streckenabschnitt und gleichzeitig eine höhengleiche Gleiskreuzung mit der ICE-Strecke nach Ulm sowie gleichzeitig eine Einfädelung in die ICE-Strecke von Ulm. Bei der Strecke von S-Rohr zum Flughafen gibt es für die Gäubahn einen eingleisigen Flughafenbahnhof, eine höhengleiche Gleiskreuzung mit der S-Bahn, einen Mischbetrieb mit der S-Bahn, eine Einfädelung von einer S-Bahnstrecke in eine andere und eine Einfädelung in die ICE-Strecke von Ulm.
Auch hier kann es nur eine Alternative geben. Entweder ist der S-Bahnausbau beim Münchner Flughafen überdimensioniert. Oder Stuttgart 21 ist unterdimensioniert und damit zumindest in Teilen nicht fahrbar geschweige denn ausbaufähig und zukunftsträchtig. In vielen Artikeln in diesem Blog wurde dargelegt, dass mit allergrößter Wahrscheinlichkeit das Zweite zutrifft.
Ganz selten sollte man Politiker auch mal loben
Wir Stuttgarter und Baden-Württemberger hatten in den vergangenen Jahrzehnten wahrhaft kein Glück mit dem Handeln unserer Politiker in der Verkehrspolitik. Das Kritisieren von Politikern wurde deshalb der Normalzustand. Fast haben wir vergessen, dass man hin und wieder Politiker auch mal loben kann. Das wollen wir jetzt mal tun und der Bayerischen Politik, insbesondere Ministerpräsident Seehofer und dem Innen- und Verkehrsminister Herrmann danken für die gute, vernünftige, konsensorientierte, bürgerfreundliche, sachgerechte und ausgewogene Verkehrspolitik im Freistaat. Vielleicht färbt irgendwann mal was davon auf Baden-Württemberg ab!
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