Dienstag, 17. Mai 2016

Der neue Stuttgarter Kombi-Hauptbahnhof als Ersatz für das Bahnrückbauprojekt Stuttgart 21

Stuttgart wird - würde das Projekt Stuttgart 21 fertiggestellt - eine weltweite Sonder- und Außenseiterposition im Eisenbahnwesen einnehmen. Eine solche Position scheint der Stadt, bzw. wenigstens bestimmten Kreisen der Stadt augenscheinlich zu gefallen. Denn Stuttgart ist ja auch eine der ganz wenigen Städte der Welt, die sich bisher um die Umsetzung eines Ringstraßensystems bei gleichzeitiger Drosselung des Autoverkehrs innerhalb der Ringe erfolgreich gedrückt haben. Stuttgart hat es auch geschafft, bei seinem städtischen Schienenverkehrsnetz (Stadtbahn) einen einmaligen strukturellen Engpass zu schaffen. Nur zwei Stammstrecken der Stadtbahn müssen 18 Außenäste* bedienen. Das ergibt einen Außenast-Stammstrecken-Quotienten von 9 (neun), einmalig in Deutschland und wahrscheinlich in Europa.

* ohne die Strecken vom Wallgraben zum Bahnhof Vaihingen, von Möhringen nach Plieningen, vom Pragsattel nach Bad Cannstatt und vom Augsburger Platz nach Untertürkheim. Diese Strecken werden nur von tangentialen Linien bedient. Würden diese Strecken ebenfalls von radialen Linien bedient, wäre der Außenast-Stammstrecken-Quotient noch höher. 

Alle Städte, die Kopfbahnhöfe oder unterdimensionierte Durchgangsbahnhöfe haben, wählen, wenn es an einen Ausbau ihres Bahnknotens geht, die Variante Kombibahnhof. Das heißt, es wird zusätzlich zum Kopfbahnhof bzw. zusätzlich zum bestehenden Durchgangsbahnhof ein weiterer Durchgangsbahnhof mit zwei jeweils zweigleisigen Zulaufstrecken gebaut (Durchmesserlinie). Die neue Durchmesserlinie ergibt zusammen mit dem bestehenden Bahnhofs- und Zulaufstreckensystem eine markante Steigerung der Bahnkapazitäten für den jeweiligen Bahnknoten.

Stuttgart 21 wäre als Bahnprojekt weltweit einmalig
Ganz anders - und weltweit einmalig - kommt das Projekt Stuttgart 21 daher. Es wird ein neuer Durchgangsbahnhof gebaut mit neuen Zulaufstrecken. Gleichzeitig aber sollen der bestehende Bahnhof und die bestehenden Zulaufstrecken vollständig stillgelegt werden. Von einer markanten Steigerung der Bahnkapazitäten kann da keine Rede sein. Der neue achtgleisige Durchgangsbahnhof kann den bestehenden 16gleisigen Kopfbahnhof nicht adäquat ersetzen. Bei den Zulaufstrecken ergibt sich die paradoxe Situation, dass eine der beiden bisherigen Hauptzufahrten, die Zufahrt Bad Cannstatt, zwar durch gleich zweieinhalb neue Zufahrten ersetzt werden soll. Die andere der beiden Hauptzufahrten, die Zufahrt Zuffenhausen, die in derselben Liga spielt wie die Zufahrt Bad Cannstatt, soll jedoch weiterhin wie bisher nur zwei Gleise aufweisen, obwohl diese Zufahrt bereits heute zu den Spitzenzeiten ausgelastet ist und als Mischverkehrszufahrt Fern-/Regionalverkehr nicht mehr als 12 bis 13 Züge pro Gleis und Stunde verkraften kann.

Das ist aber noch längst nicht alles. Stuttgart 21 bringt auch zusätzliche, neue Engpässe für den Bahnknoten Stuttgart, nicht nur beim Hauptbahnhof und bei den Zulaufstrecken, sondern vor allem auch bei der Anbindung an das Bestandsnetz. Da wäre zum Beispiel die Wendlinger Kurve mit ihren neuen höhengleichen Gleiskreuzungen und ihrem eingleisigen Streckenabschnitt zu nennen. Dazu gehören auch die beiden neuen höhengleichen Gleiskreuzungen, die beim Bahnhof Plochingen entstehen. Ebenfalls gehört dazu die neue höhengleiche Gleiskreuzung und der neue eingleisige Abschnitt zwischen dem Untertürkheimer Tunnel und dem S-Bahnhaltepunkt Nürnberger Straße. Nicht zuletzt gehört dazu auch der neue Mischbetrieb S-Bahn/Regionalbahn/Fernbahn zwischen Rohr und dem Flughafen, die neue höhengleiche Gleiskreuzung beim Flughafen und der eingleisige Bahnhof für die Gäubahn beim Flughafen.

Die Themen Kombibahnhof und Durchmesserlinie waren schon mehrfach in diesem Blog vertreten. Nicht zuletzt haben wir bereits zahlreiche Städte in Europa genannt, in denen ein Kombibahnhof in Betrieb, in Bau oder in Planung ist.


Heute geht es nach Basel, Luzern und Marseille
Heute wollen wir erneut drei Städten einen Besuch abstatten, die einen Kombibahnhof mit neuer Durchmesserlinie planen und damit die Kapazität ihres Bahnknotens markant erhöhen wollen. Das sind die Städte Basel, Luzern und Marseille.

Herzstück-Basel: Nach anfänglichen Planungsfehlern auf der richtigen Spur
Basel plant bei seinem Bahnknoten eine neue Durchmesserlinie, genannt Herzstück-Basel. Die in erster Linie für den S-Bahnverkehr, nach neuesten Planungen aber auch für andere Züge vorgesehene Durchmesserlinie wird zwischen den beiden Basler Hauptbahnhöfen Basel SBB und Basel Badischer Bahnhof eine neue Doppelspur (das fünfte und sechste Gleis) bringen. Zwischen beiden Bahnhöfen wird es zwei neue unterirdische Haltepunkte unter der Innenstadt von Basel geben. Der Rhein wird in großer Tiefe unterfahren. 

Mit der ursprünglich vorgelegten Planung konnte man überhaupt nicht zufrieden sein. Das sah in Teilen nach Stuttgart 21 aus. Die Bahnstrecken vom Hochrhein (Waldshut) und aus dem Wiesental (Lörrach) sollten zunächst mal in den bestehenden Bahnhof Basel Badischer Bahnhof eingeleitet werden. Von dort sollten sie in Richtung Norden in den Tunnel abtauchen, dann eine 180 Grad-Schleife unter Kleinbasel machen, den Rhein unterfahren und mit einer weiteren Schleife unter der Innenstadt von Basel in den bestehenden Bahnhof Basel SBB einfahren. Diese modellbahnhaften Schleifen und Umwege erinnerten an die Stuttgart 21-Planung am Flughafen.

Gott sei Dank kam dann vor wenigen Tagen die Wende. Beim 2. Trinationalen Bahn-Kongress "bk 16", der Ende April 2016 in Basel stattfand, wurde ein überarbeitetes Herzstück-Projekt vorgestellt. Das Herzstück (die Durchmesserlinie) erhält jetzt jeweils eigene Bahnhöfe in Tiefenlage unter den bestehenden Bahnhöfen Basel SBB und Basel Badischer Bahnhof. 180 Grad-Schleifen sind bei der Durchmesserlinie nicht mehr erforderlich. Die Strecken vom Hochrhein und aus dem Wiesental fahren geradeaus in die Basler Innenstadt, sie unterqueren den Bahnhof Basel Badischer Bahnhof etwa rechtwinklig und streben direkt dem Rhein und der Innenstadt von Basel zu. Von dort geht es auf der Großbasler Seite weiter zu einem neuen Bahnhof unter dem bestehenden Bahnhof Basel SBB. In der Basler Innenstadt zweigt zudem ein Streckenast ab, der in Richtung Flughafen und weiter ins Elsaß führt.   

Hoffen wir, dass diese großartige Planung dereinst verwirklicht wird. Gemäß einer Zeitungsmeldung zeigten sich auch die Vertreter aus dem Verkehrsministerium Baden-Württemberg begeistert von der Planung. Einen finanziellen Beitrag will das Land Baden-Württemberg zum neuen Herzstück, das sich in BW bis nach Freiburg, bis nach Waldshut-Singen und bis fast an den Feldberg im Schwarzwald positiv auswirkt, jedoch nicht leisten. So bleibt mal wieder alles an der Schweiz hängen. Gerade auch im Vergleich zum Verhalten des Landes BW beim Projekt Stuttgart 21 kann man hier schon ein wenig wütend werden.

Die neue Luzerner Durchmesserlinie - eine Konkurrenz für das Herzstück-Basel
Der Luzerner Hauptbahnhof ist ein Kopfbahnhof - wie derzeit auch der Stuttgarter Hauptbahnhof. Der Luzerner Kopfbahnhof verfügt über 14 Gleise. In Stuttgart sind es zur Zeit 18. Beziehen wir die Gleise mal auf die Einwohnerzahl, so haben wir in Luzern 14 Gleise pro 81.000 Einwohner. Auf ein Gleis kommen somit 5.785 Einwohner. In Stuttgart haben wir 18 Gleise (16 Kopfbahnhofgleise und 2 S-Bahngleise) pro 612.000 Einwohner. Auf ein Gleis kommen also 34.000 Einwohner. Solche Gegenüberstellungen sind selbstverständlich pseudogenau, aber insofern wichtig und interessant, weil sie den Stellenwert der Eisenbahn in der Schweiz zeigen.

Auch Luzern plant eine neue Durchmesserlinie zusätzlich zum bestehenden Kopfbahnhof. Aus Richtung Zürich und Mailand kommend soll die Durchmesserlinie den Vierwaldstätter See unterqueren und dann in einen Durchgangsbahnhof unter dem Kopfbahnhof einfahren. Vom Durchgangsbahnhof führt dann die neue Doppelspur unterirdisch weiter zu den Strecken in Richtung Basel und Bern.

Zwischen den Durchmesserprojekten in Basel und in Luzern könnte sich eine Konkurrenzsituation ergeben. Der Bund wird in den kommenden zwei Jahren entscheiden, welche Bahnprojekte in der Schweiz bis 2030 verwirklicht werden. Aus Stuttgarter Sicht wird man selbstverständlich beiden Städten die Daumen drücken, teu teu teu!

Das französische Kabinett hat den Bau einer Durchmesserlinie für Marseille beschlossen
Der Hauptbahnhof der Hafenstadt Marseille ist zur Zeit ein Kopfbahnhof mit 16 Gleisen. Nun hat das französische Kabinett eine wichtige strategische Entscheidung getroffen. Die geplante neue Hochgeschwindigkeitslinie des TGV entlang der Côte d’Azur Richtung Nizza, Monaco und Ligurien soll nicht irgendwo im Hinterland fahren, sondern über Marseille geleitet werden. Hierzu wird es in Marseille eine neue Durchmesserlinie geben, deren Bahnhof unter dem bestehenden Kopfbahnhof liegen wird. Die neue Durchmesserlinie wird nicht nur zusätzliche Bahnsteige für den Bahnknoten Marseille bringen. Sie wird auch zusätzliche Zulaufgleise bringen und sie wird höhengleiche Fahrstraßenkreuzungen im Zulaufbereich des Marseiller Hauptbahnhofs beseitigen. 2025 soll die neue Durchmesserlinie in Betrieb gehen.

Der Weg zum Stuttgarter Kombi-Hauptbahnhof ist nach wie vor offen und gehbar
Die im heutigen und auch in einigen vorangegangenen Posts in diesem Blog vorgenommene Reise zu verschiedenen europäischen Städten und deren Bahnprojekten ist keineswegs eine bloße Nostalgiereise. Es handelt sich hier vielmehr um eine Bildungsreise. Denn auch in Stuttgart ist der Kombi-Hauptbahnhof mit einer kapazitätssteigernden Durchmesserlinie nach wie vor machbar.

Der Großteil der Stuttgart 21-Elemente, der dies verhindern würden, ist noch gar nicht in Bau gegangen. Das gilt für die Rohrer Kurve ebenso wie für die ungeeignete Umrüstung der S-Bahnstrecke zum Flughafen für Fernzüge. Das gilt für den eingleisigen Flughafenbahnhof der Gäubahn ebenso wie für die niedlichen Gleisschleifen der Gäubahn um den Langwieser See. Das gilt auch für den Erhalt eines 10gleisigen Kopfbahnhofs. Auch vom unnötigen Untertürkheimer Tunnel ist erst ein ganz kleines Stück im Bau.

Für die Durchmesserlinie mit zwei Gleisen von Zuffenhausen über den Feuerbacher Tunnel, einem sechsgleisigen Durchmesserbahnhof mit breiten Bahnsteigen sowie den beiden Gleisen des Fildertunnels sind somit noch alle Türen offen. Das gilt auch für den 10gleisigen Kopfbahnhof mit zwei weiteren Zulaufgleisen von Zuffenhausen und zwei abzweigenden Gleisen der Zufahrt Bad Cannstatt aus dem Cannstatter Tunnel sowie zwei Zulaufgleisen der Gäubahn über die Panoramastrecke, die als radiale Bahnstrecke erhalten bleibt. 

Selbstverständlich spricht auch viel dafür, Stuttgart 21 ganz abzublasen und mit der Planung der Zukunft des Bahnknotens Stuttgart neu zu beginnen. Das mag manchem Protagonisten heute noch schwer fallen. Kein Verständnis kann man jedoch für diejenigen Politiker aufbringen, die angesichts der schweren Krise, in der sich Stuttgart 21 befindet, selbst den naheliegenden Kombi-Hauptbahnhof ablehnen.        
      

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