Die Stuttgarter Defizite sind vielen Politikern nicht im Einzelnen bekannt. Ein allgemeines Unbehagen gibt es jedoch quer über alle Politiker in Stuttgart und in BW hinweg, was den Zustand des Städtebaus, der Architektur und des Verkehrswesens in Stuttgart betrifft. Und dieses Unbehagen war es dann auch, das den Nährboden für das als Heilbringer angesehene Projekt Stuttgart 21 bereitete.
Im heutigen Post soll ein Versuch gemacht werden, die großen Stuttgarter Defizite in der Verkehrsplanung, der Architektur und der Stadtplanung aufzulisten. Heute geht es also ans Eingemachte. Das ist nicht immer leicht zu verdauende Kost. Beim einen oder anderen der aufgelisteten Punkte mag vielleicht sogar mancher oder manche aus der Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 die Nase rümpfen. Aber eine Auflistung der großen Stuttgarter Defizite ohne falsche Rücksichtnahme auf Lobbyisten, auf Parteien oder andere Interessen ist unabdingbar, wenn man eine Richtschnur für das erforderliche Handeln in der Zukunft erhalten will. Am Ende der Auflistung werden wir sehen, dass Stuttgart 21 kein einziges der großen Stuttgarter Defizite beseitigt und dass deshalb das zukünftige Handeln in Stuttgart nur ohne S21 stattfinden kann.
Die Auflistung der Defizite gliedern wir in die acht Bereiche Straßenverkehr, S-Bahn, Bahnanbindung Flughafen, Bahnkorridor Stuttgart-Ulm, Stadtbahn, Städtebau, Architektur und Tourismus.
1. Straßenverkehr
- In der Innenstadt gibt es viel zu viele öffentliche und private Stellplätze, doppelt so viele wie in München und mehr als doppelt so viele wie in Zürich.
- Der Innere Ring (Cityring) ist überdimensioniert. Tunnelrampen, Unterführungen und Hochstraßenbrücken haben im Stuttgarter Talkessel nichts zu suchen.
- Ein Mittlerer Ring ist nur rudimentär vorhanden. Eine verkehrliche Wirkung mit Entlastung des Talkessels entfalten die kleinen, bereits vorhandenen Teilstücke eines Mittleren Rings nicht.
- Ein Außenring ist nur zur Hälfte vorhanden.
- Die Radialstraßen sind ungleich stärker ausgebaut als die Ringstraßen. Der Normalfall in einer Großstadt ist umgekehrt.
- Die Straßenverkehrsplanung in Stuttgart steht auf dem Kopf.
- Das S-Bahnnetz der Region Stuttgart ist mit Abstand kleiner als das S-Bahnnetz vergleichbarer Regionen (z.B. München, Frankfurt/Main, Zürich).
- Die Stammstrecke der S-Bahn im Stuttgarter Talkessel ist teilweise ausgelastet und überlastet.
- Die Zuggattung der Express-S-Bahn (eine S-Bahn, die nicht an allen Haltepunkten hält) kommt nicht zum Einsatz.
- Es fehlen tangential geführte S-Bahnstrecken, die am Talkessel vorbeifahren.
- Die S-Bahnverbindung vom Flughafen zum nächstgelegenen großen Bahnknotenpunkt (Stuttgart Hauptbahnhof) ist zu langsam. Zudem ist die Taktfrequenz zu groß.
- Der Flughafen liegt an einem Streckenende des S-Bahnnetzes und damit abseits. Der Flughafen muss innerhalb des S-Bahnnetzes liegen.
- Die Zuggattung der Express-S-Bahn kommt nicht zum Einsatz.
- Es gibt außer dem Hauptbahnhof keine weiteren Umsteigebahnhöfe, die mit der S-Bahn vom Flughafen direkt erreicht werden.
- Landesregierung und Bahn haben es um 1990 verpasst, im Anschluss an die Fertigstellung der Schnellfahrstrecke Mannheim-Stuttgart sofort einen etappierbaren Ausbau für Fern-, Regional- und Güterverkehr in die Wege zu leiten.
- Wegen des fast europaweiten Sonderfalls Geislinger Steige ist der Bahnkorridor Stuttgart-Ulm nur bedingt für den modernen Schienengüterverkehr geeignet. Damit ist es nicht möglich, Güterverkehr im Verlauf der Autobahn A8 von der Straße auf die Schiene zu bringen.
- Der im Bahnkorridor stattfindende Güterverkehr ist trotzdem noch so stark, dass er für das dicht besiedelte Neckartal und Filstal eine Belastung darstellt.
- Der Abschnitt Plochingen-Göppingen ist überlastet. Eine S-Bahn kann dort unter den gegebenen Umständen nicht eingerichtet werden.
- Die Fahrzeit zwischen Stuttgart und Ulm im Personenfernverkehr ist um ca. 10 Minuten zu hoch, um konkurrenzfähig zu sein.
5. Stadtbahn
- Die Netzstruktur der Stadtbahn Stuttgart ist ungünstig. Als einziges Netz unter den vergleichbaren Netzen in Deutschland gibt es in der Innenstadt nur zwei Stammstrecken (Türlenstraße-Olgaeck, Stöckach-Staatsgalerie). Alle anderen vergleichbaren Netze in Deutschland haben drei oder mehr Stammstrecken.
- Der Quotient zwischen der Zahl der Außenstrecken und der Zahl der Stammstrecken ist mit der Zahl Neun markant höher als der entsprechende Quotient bei anderen Netzen. Das verhindert eine möglicherweise bald erforderlich werdende Taktverdichtung.
- Die ungünstige Netzstruktur führt dazu, dass auf vielen Teilstrecken die Züge der einzelnen Linien zeitlich unmittelbar hintereinander folgen. Dann kommt eine große Zeitlücke, bis sich das Spiel wiederholt.
- Die Stadtbahn ist nur ganz eingeschränkt in der Lage, Mobilitätswünsche innerhalb der Innenstadt zu erfüllen. Vielfach ist man dort schneller zu Fuß am Ziel.
- Die Tunnelrampen am Rand der Innenstadt (Charlottenstraße, Schlossstraße und Fritz-Elsas-Straße) verhindern die Umwandlung dieser wichtigen Straßen in Boulevards.
6. Städtebau
- In Stuttgart gibt es so gut wie keine historische Altstadt. Eine historische Altstadt gehört zum wichtigsten, was die Menschen positiv mit einer europäischen Stadt verbinden.
- Viele der Plätze in Stuttgart sind keine Plätze, weder was die Platzfläche betrifft, noch was die Randbebauung betrifft. Es sind vielmehr banale Straßenkreuzungen.
- Die wegen der Kessellage sowieso schon vergleichsweise kleine Innenstadt wird durch schwere verkehrstechnische und städtebauliche Fehler noch weiter verkleinert und von den angrenzenden Stadtgebieten abgetrennt.
- Quer zur Königstraße gibt es kaum attraktive Straßen und Sichtbeziehungen.
- Es gibt in der Innenstadt und im Verlauf der Ausfallstraßen keine einzige Prachtstraße/Boulevard. Die Hohenheimer Straße, die als einzige Straße von der Randbebaung das Zeug zu einer Prachtstraße hätte, wird durch Verkehr und Verkehrseinbauten entwertet.
- Große Brachflächen (z.B. Güterbahnhof Bad Cannstatt, Pragsattel, SSB Vogelsang, SSB Möhringen, SSB Ostheim) werden oft jahre- oder gar jahrzehntelang nicht bebaut.
- In der Innenstadt und entlang der Ausfallstraßen gibt es so gut wie kein Gebäude mehr, das die Stuttgart-Identität repräsentiert.
- Es gibt keinerlei Pläne oder Initiativen für den Wiederaufbau historischer Gebäude oder Gebäudeensembles.
- Die Einwirkungen der Stadt auf die Art der Bebauung (Gebäudehöhe, Gebäudelinie, Fassadengestaltung, Fassadenfarbe) ist nicht in ausreichendem Maß vorhanden.
- Es wurden und werden historische Gebäude abgerissen, die jedenfalls zu erhalten wären. Eine Stellungnahme des Europarats zu den Vorgängen in Stuttgart bezüglich möglicher Verletzungen der Granada-Konvention steht noch aus.
- Die neu entstandenen Gebäude sind zum größten Teil nicht der Rede wert und keine Bereicherung für die Stadt. Das letzte bemerkenswerte Gebäude war die Neue Staatsgalerie (Achziger Jahre des letzten Jahrhunderts).
- Die fünf besucherstärksten Sehenswürdigkeiten (Mercedes Benz-Museum, Porsche-Museum, Musical, Wilhelma, Fernsehturm) liegen willkürlich verstreut in der Fläche ohne räumlichen und funktionalen Bezug zur Stadtanlage.
- Der Neckarpark ist kein Park, sondern eine willkürliche Ansammlung von Sportstädten, Straßen und hässlichen Gebäuden. Im Gegensatz dazu ist z.B. der Olympiapark in München mit seinen Seen, Hügeln, großartigen Parkanlagen und architektonisch interessanten Sportstätten eine Touristenattraktion ersten Ranges.
- Die Alleinstellungsmerkmale von Stuttgart (Topographie, Tal-, Hang- und Höhenparks, Aussichtspunkte, Aussichtsstraßen, Waldgürtel am Kesselrand, Mineralquellen) verfügen weder über einen einheitlichen adäquaten Schutzstatus, noch über eine einheitliche Wegweisung und Information noch über einen einheitlichen Auftritt in Broschüren und Internet.
Wenn man diese Massierung an Defiziten in Stuttgart sieht, ist man zunächst einmal sprachlos. Nach dem ersten Schreck wird jedoch schnell klar, dass die großen Stuttgarter Defizite bei Stadtplanung, Architektur und Verkehrsplanung durch Stuttgart 21 nicht beseitigt werden können. Einige der genannten Defizite werden durch Stuttgart 21 sogar noch größer werden. Zudem würde Stuttgart 21 in den kommenden mindestens 15 Jahren sämtliche finanziellen und personellen Ressourcen von Stadt und Land beanspruchen. Für die Beseitigung auch nur einiger der genannten großen Defizite würde dann nichts mehr übrig bleiben. Und lösen tut Stuttgart 21 kein einziges der genannten Defizite. Stuttgart 21 würde die Stadt und ihre Region für die kommenden 50 bis 100 Jahre gegenüber anderen Städten und Regionen weiter zurückwerfen. Wer also Verantwortung für Stuttgart trägt und dies nicht nur als Lippenbekenntnis sieht, stoppt dieses Projekt so schnell wie möglich - und das möglichst noch vor der Abwahl oder dem Rücktritt.
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