Mittwoch, 25. Januar 2012

Alles-oder-Nichts-Projekt Stuttgart 21 darf nur als Ganzes planfestgestellt werden

Stuttgart 21 ist ein Alles-Oder-Nichts-Projekt. Das Projekt entgeht nur dann dem Schicksal, die größte Verkehrs-Bauruine in der Geschichte Deutschlands zu sein, wenn alle Bauabschnitte des Projekts einschließlich der Abschnitte des benachbarten Projekts der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm fertiggestellt sind.

In auffallendem Gegensatz zur Eigenschaft von Stuttgart 21 als Alles-oder-Nichts-Projekt steht das bei Stuttgart 21 angewendete Planungs- und Genehmigungsverfahren. Stuttgart 21 wie auch die benachbarte Neubaustrecke Wendlingen-Ulm sind in verschiedene Planfeststellungsabschnitte geteilt. Stuttgart 21 besteht aus sieben Planfeststellungsabschnitten, die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm besteht aus weiteren sechs Planfeststellungsabschnitten. Für jeden Planfeststellungsabschnitt wird ein eigenständiges Verfahren durchgeführt. Dieses Verfahren endet jeweils mit dem Planfeststellungsbeschluss - wenn alles gut geht. Der Planfeststellungsbeschluss ist die amtliche Baugenehmigung für den betreffenden Abschnitt.



Heiner Geißler hat beim Sach- und Faktenchek zu Stuttgart 21 treffend festgestellt, dass die heute bei Verkehrs-Großprojekten angewendeten Planungs- und Genehmigungsverfahren (Raumordnungsverfahren und Planfeststellungsverfahren) nicht mehr zeitgemäß sind und dass die mit Recht von der Bevölkerung eingeforderte Beteiligung im Rahmen dieser Verfahren nicht zufriedenstellend erfüllt wird. Das gilt sowohl für das Raumordnungsverfahren (das wäre ein Thema für einen eigenen Post) als auch für die Planfeststellungsverfahren.

Bei Stuttgart 21 sitzt man jetzt in der klassischen Falle, die durch die Teilung des Projekts in verschiedene Planfeststellungsabschnitte schon lange absehbar war. Für zwei wichtige Abschnitte sind die Planfeststellungsbeschlüsse noch nicht vorhanden. Für einen dieser beiden Abschnitte, den wichtigen Abschnitt auf den Fildern und beim Flughafen, wurde noch nicht einmal das Planfeststellungsverfahren eingeleitet. Und der Grund für den in diesem Abschnitt noch nicht einmal erfolgten Beginn des Verfahrens ist, dass die Bahn bis heute keine genehmigungsfähige Planung vorgelegt hat. Möglicherweise wird es nie gelingen, eine solche Planung vorzulegen.

Trotzdem baut die Bahn nun schon seit Monaten im Stuttgarter Talkessel (präziser müsste man sagen, die Bahn baut nicht, sie zerstört nur). Die Vorgänger der Bahnchefs Grube und Mehdorn bzw. deren Aufsichtsräte waren schon einmal schlauer. Sie fassten den Beschluss, dass mit Stuttgart 21 erst dann begonnen werden darf, wenn alle Abschnitte planfestgestellt sind. Damit waren sich diese Führungskräfte ihrer Verantwortung bewusst sowie der Problematik, die durch die Einteilung des Alles-oder-Nichts-Projekts Stuttgart 21 in mehrere Planfeststellungsabschnitte besteht. 

Heute gelten die vor Jahren gefassten Beschlüsse nichts mehr. Die Bahn schafft im Stuttgarter Talkessel Fakten, sie richtet Zerstörungen ungeheuren Ausmaßes an. Sie reist Teile des wichtigsten Baudenkmals Stuttgarts und eines der wichtigsten Baudenkmäler des Verkehrs in Europa ein, sie will hunderte alter Bäume in einem königlichen Park in einer der am höchsten feinstaubbelasteten Innenstädte Europas fällen. Und das alles, ohne dass auch nur im entferntesten klar ist, ob alle Planfeststellungsabschnitte von Stuttgart 21 jemals Baurecht erlangen.

Und hier geht es ja nicht nur um die schon genannten Unzulänglichkeiten der Planung im Filderabschnitt. Im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens für den Filderabschnitt werden die Begründungen für Stuttgart 21 insgesamt wieder auf den Prüfstand kommen. Zu diesen Begründungen gehören zum Beispiel solche Dinge wie dass durch Stuttgart 21 wesentlich mehr Zugbewegungen am Knoten Stuttgart abgewickelt werden können als im Bestand, dass mehr und besserer Regionalverkehr stattfinden kann, dass es eine sogenannte Magistrale Paris-Bratislava geben soll und dass der Flughafen dringend einen ICE-Anschluss braucht. Alle diese Gründe haben sich beim Sach- und Faktencheck und durch danach erfolgte Untersuchungen in Luft aufgelöst und teilweise sogar ins Gegenteil verkehrt. Wenn aber die Begründungen für Stuttgart 21 insgesamt nicht mehr stichhaltig sind, kann auch ein Teilabschnitt von Stuttgart 21 nicht mehr planfestgestellt werden.

Und es kommt noch etwas Drittes hinzu. Auch bei den Abschnitten, wo schon formal Baurecht besteht (zum Beispiel im Stuttgarter Talkessel), kann die Bahn noch längst nicht richtig bauen. Es fehlen zum Beispiel Untersuchungen zu bestimmten Sachverhalten sowie Beteiligungen der anerkannten Naturschutzverbände oder es sind wegen neuer, bereits erfolgter Untersuchungen Planänderungen oder sogar neue Planfeststellungsverfahren erforderlich, die erneut Monate oder Jahre in Anspruch nehmen. Und es kann noch schlimmer kommen: die erforderlichen Änderungen können zu der Feststellung der Undurchführbarkeit des Bauvorhabens führen. Beispiele für diesen Themenkomplex sind der vor einigen Wochen gerichtlich verfügte Baustopp am Grundwassermanagement oder auch die Ankündigung der Bahn, dass entgegen den Festsetzungen im Planfeststellungsbeschluss ein Vielfaches an Grundwasser während des Baus des Tiefbahnhofs abgepumpt werden muss.

Nun wissen wir allerdings, dass Stuttgart 21 inzwischen ein politisches Projekt geworden ist. Sachargumente spielen keine Rolle mehr. Es geht bestimmten Kreisen in Land und Bund darum, mit allen Mitteln zu verhindern, dass eine Bürgerbewegung letztendlich Recht behält. Und es geht Teilen der Bundesregierung darum, die Grünen im Land BW vorzuführen und den ersten Grünen Ministerpräsidenten in Deutschland möglichst rasch scheitern zu lassen. Nur deshalb ist noch kein Baustopp für Stuttgart 21 erfolgt. Nur deshalb wird weiter abgerissen.

Die Menschheitsgeschichte ist voll von solchen Tragiken. Wie oft wurden bereits Kriege geführt oder unglaubliche Zerstörungen angerichtet nur für den Zweck, das gekränkte Ego eines Herrschenden zu befriedigen? Wir Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger sehen zur Zeit fassungslos zu, wie Teile der Stadt zerstört werden - für eine voraussichtliche Bauruine.

Ein sofortiger Stopp der Bauarbeiten für Stuttgart 21 ist jetzt das Gebot der Stunde. Diejenigen Politiker in der Landesregierung, die diesem Ziel entgegenarbeiten, werden früher oder später auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Niemand kann sich nachher damit herausreden, er oder sie hätte das nicht gewusst oder nicht vorhergesehen. Und ein sich Verstecken hinter einem mit fragwürdiger Beeinflussung zustandegekommenen Volksentscheid wird sich ebenfalls nicht auszahlen. 

Dem Eilantrag für einen sofortigen Baustopp, den verschiedene Prominente, darunter Peter Conradi, Peter Dübbers, Egon Hopfensitz und Walter Sittler mit Hilfe der Juristen zu Stuttgart 21 jetzt beim Eisenbahnbundesamt eingereicht haben, ist ein baldiger und nachhaltiger Erfolg zu wünschen. Auch den zuständigen Beamten müsste klar sein, dass die ihre Spielchen spielenden Politiker nicht ewig an der Regierung bleiben werden. Wer auf eine dauerhafte Unterstützung dieser Politiker hofft, wird bald im Regen stehen.                                   

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