Sonntag, 29. Juni 2014

Heimerl stolpert bei Stuttgart 21-Rettungsversuch

Es muss eine schwere Bürde sein, als geistiger Vater von Stuttgart 21 in der Öffentlichkeit gehandelt zu werden, des umstrittensten und möglicherweise schlechtesten Bahnprojekts in Europa. Den emeritierten Professor Heimerl, inzwischen 80jährig, scheint die Sache jedenfalls immer noch umzutreiben. 

Wie anders ist es zu erklären, dass er jetzt erneut versucht, sich in Sachen Stuttgart 21 einzumischen? Jetzt tritt er als Kopf einer Arbeitsgruppe "Verkehr 21" auf und gibt - zusammen mit einer Handvoll namentlich nicht bekannter Anhänger - seine Ansichten zum zukünftigen Bahnverkehr in Stuttgart zum Besten.

Die Gäubahnstrecke - so wird Heimerl in der Stuttgarter Zeitung vom 13.06.2014 zitiert - soll nach einer Inbetriebnahme von Stuttgart 21 erhalten bleiben und als zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn dienen. Konkret soll dies in der Form einer tangentialen S-Bahnlinie, z.B. von Ludwigsburg nach Vaihingen erfolgen.

Auf diese Vorschläge gehen wir gleich näher ein. Zunächst einmal gilt es jedoch, sich vom Titel "Verkehr 21" dieser Arbeitsgruppe peinlich berührt zu zeigen. Reicht es denn nicht aus, dass die Zahl "21" mit dem unsäglichsten Bahnprojekt in der Geschichte Deutschlands verbunden ist? Soll jetzt auch noch der gesamte Verkehr in der Metropolregion Stuttgart im 21. Jahrhundert nach dem Einundzwanziger-Prinzip gemanagt werden? Und wer außer Heimerl gehört eigentlich dieser Arbeitsgruppe noch an? Verstecken sich hier die einschlägig bekannten Pappenheimer hinter Heimerl?


Kommen wir jetzt aber zur Sache. Anscheinend ist nun auch Heimerl davon überzeugt, dass die Führung der Gäubahn über den Flughafen und die damit verbundene Stilllegung der Gäubahnstrecke über S-Vaihingen und die Panoramabahn mit der direkten Führung zum Hauptbahnhof ein großer Fehler ist - einer von vielen Fehlern des Projekts Stuttgart 21. Nun kann Heimerl aber wohl nicht über seinen Schatten springen. Er kann nicht, wie es eigentlich jetzt angesagt wäre, sich vom Projekt Stuttgart 21 lossagen oder wenigstens dieses Projekt auf ganz wenige Teile eindampfen (z.B. S-Bahnstrecke Flughafen-Terminal nach Wendlingen bzw. nach Nürtingen, Sanierung Kopfbahnhof mit neuer Fußgänger-Unterführung, Tunnel Bad Cannstatt als fünftes und sechstes Gleis der Zufahrt Bad Cannstatt), um auf diesen von Stuttgart 21 übernommenen Teilen dann den weiteren etappierbaren Ausbau des Bahnknotens Stuttgart zu gründen.

Das alles kann Heimerl nicht. Statt dessen schlägt er jetzt vor, die Panoramastrecke der Gäubahn einer anderen Nutzung zuzuführen. Er denkt dabei an eine tangentiale S-Bahnlinie, also an eine S-Bahnlinie, die den Hauptbahnhof und die Stuttgarter Innenstadt nicht anfährt, z.B. von Ludwigsburg nach Vaihingen.

Nun ist dieser Vorschlag für uns hier in diesem Blog nichts Neues. Wir haben dieses Thema bereits ausführlich behandelt. Wenn man sich die S-Bahnnetze im deutschsprachigen Raum ansieht, stellt man fest, dass es nirgendwo tangential verlaufende S-Bahnlinien gibt, nicht in München, nicht in Nürnberg, nicht in Frankfurt/Main, nicht in Hamburg, nicht in Zürich, nicht in Wien, nicht in Rostock und nicht in Leipzig. Es gibt lediglich in Mega-Citys, die ein vielfaches größer sind als Stuttgart, vereinzelt Ringlinien, die um das Zentrum kreisen (U-Bahn oder S-Bahn), z.B. in Moskau, in London oder in Berlin. 

Viele Gründe sprechen gegen tangential verlaufende S-Bahnlinien
Es gibt viele Gründe, die die Einrichtung von tangential verlaufenden S-Bahnlinien ausschließen. Diese Linien verursachen auf den Außenästen des S-Bahnnetzes eine Doppelbedienung zwischen radial und tangential verlaufenden Linien. Diese Doppelbedienung ist oft unwirtschaftlich. Ließe man die tangential verlaufenden S-Bahnlinien im gleichen Takt fahren wie die radial fahrenden Linien, würden die tangentialen Linien viel warme Luft transportieren. Ließe man dagegen die tangential verlaufenden S-Bahnlinien in einem der Nachfrage entsprechenden dünneren Takt fahren, wären diese Linien vollends unattraktiv. Die Fahrgäste würde dann in jedem Fall die radial verlaufenden Linien benutzen und ggf. einmal umsteigen.

Auch die Einfädelung der tangential verlaufenden S-Bahnlinien in die radial verlaufenden Außenäste des S-Bahnnetzes bereitet Probleme. Diese Einfädelung müsste höhenfrei sein. Sonst würde die Leistungsfähigkeit des S-Bahnnetzes insgesamt drastisch sinken. Die höhenfreie Einfädelung ist jedoch nicht nur mit hohen Kosten, sondern auch mit einem riesigen Platzbedarf und Eingriffen in das Stadtgefüge verbunden. Fazit: Man sollte sich das Hirngespinst tangential verlaufender S-Bahnlinien möglichst rasch aus dem Kopf jagen.

Die tangentiale Führung einer S-Bahnlinie über die Gäubahn ist keine zweite Stammstrecke für die S-Bahn
Heimerl stolpert nun aber bereits in die nächste Falle. Er bezeichnet diese Führung einer tangentialen S-Bahnlinie über die Gäubahn als zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn. Nun könnte man zunächst einmal begrüßen, dass der Begriff und das Thema einer zweiten Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn anscheinend jetzt auch bei Heimerl angekommen sind, nachdem uns dieses Thema hier in diesem Blog bereits seit Jahren beschäftigt. Das Dumme ist nur, dass der Heimerl-Vorschlag für eine tangentiale S-Bahn im Verlauf der Gäubahn mit einer zweiten Stammstrecke nicht das Geringste zu tun hat.

Eine Stammstrecke der S-Bahn ist so definiert, dass auf einer solchen Strecke alle Linien bzw. eine bestimmte Gruppe an Linien der S-Bahn gebündelt werden. Zudem verläuft eine Stammstrecke der S-Bahn über den Hauptbahnhof und/oder über die Innenstadt. Das ist in allen S-Bahnnetzen so. Selbstverständlich verläuft die zweite Stammstrecke der Hamburger S-Bahn über den Hauptbahnhof und über den Bahnhof Altona - genauso wie die erste Stammstrecke. Selbstverständlich verläuft die Durchmesserlinie in Zürich (die zu 60 Prozent eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn ist) über den Hauptbahnhof - genauso wie die erste Stammstrecke der Zürcher S-Bahn. Selbstverständlich soll die zweite Stammstrecke der Münchner S-Bahn über den Hauptbahnhof und über den Ostbahnhof verlaufen - genauso wie die erste Stammstrecke. 

Eine zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn muss somit über den Hauptbahnhof verlaufen. Sonst wäre sie wirkungslos und ein Flop. Die zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn haben wir in diesem Blog bereits ausführlich behandelt. Der Favorit für Stuttgart ist eine Durchmesserlinie nach Zürcher Vorbild, also eine Strecke, die zu 60 Prozent als zweite Stammstrecke für die S-Bahn dient und die zu 40 Prozent die Haupt-Fernverkehrslinie München-Frankfurt aufnimmt.   

München könnte mit einer tangential verlaufenden S-Bahn nichts anfangen
Nun tappt Heimerl aber bereits in die dritte Falle. Er stellt fest, dass "jede andere Stadt, wie beispielsweise München, froh wäre, mit solch einem geringen Aufwand eine zweite S-Bahn-Stammstrecke zu erhalten". Gerade München hat jedoch eine tangentiale Führung von S-Bahnlinien, wie sie Heimerl für die Gäubahn vorschlägt, abgelehnt. Diese Führung ist ineffektiv. In München gab es ja einen Alternativvorschlag zur Zweiten Stammstrecke der S-Bahn. Dieser Alternativvorschlag sah vor, dass verschiedene S-Bahnlinien über den sogenannten Südring fahren. Das entspricht in etwa der Führung, wie sie Heimerl jetzt für die Gäubahn vorgeschlagen hat. Die Fahrt über den Münchner Südring hätte sowohl am Hauptbahnhof als auch am Münchner Marienplatz weit entfernt vorbeigeführt. Alle Untersuchungen hatten zum Ergebnis, dass diese Führung der S-Bahn nicht die gewünschte Verkehrswirkung hat.

München wäre also über den Heimerl-Vorschlag zur Gäubahn nicht froh. Abgesehen davon, dass dieser Vorschlag alles andere als eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn beinhaltet, entfaltet er auch nicht die erforderliche verkehrliche Wirkung.

Andere Städte wären froh, eine zweigleisige Zulaufstrecke wie die Gäubahn und einen 16-gleisigen Hauptbahnhof zu haben
Jetzt kommen wir aber zum Kern der Sache. Jetzt stellen wir das Ding vom Kopf auf die Füße. Andere Städte wären in der Tat froh, sie hätten eine zweigleisige, ausbaufähige Zulaufstrecke zu ihrem Hauptbahnhof, wie es die Gäubahn in Stuttgart darstellt. Andere Städte wären froh, sie hätten einen 16gleisigen, mit einer zusätzlichen Durchmesserlinie ausbaufähigen Hauptbahnhof, wie ihn Stuttgart derzeit Gott sei Dank noch besitzt. 

So wird ein Schuh aus der Angelegenheit. Die Schlussfolgerung lautet: Die Gäubahn zum Hauptbahnhof über Stuttgart-Vaihingen muss unbedingt erhalten werden. Ebenso müssen die 16 Gleise des Kopfbahnhofs erhalten werden.

Zusammengefasst ist somit der Heimerl-Vorschlag für die Gäubahn ein Rohrkrepierer. Nun wird der emeritierte Professor Heimerl in der Stuttgarter Zeitung nach wie vor als Verkehrswissenschaftler vorgestellt. Der Heimerl-Vorschlag zur Gäubahn hat jedoch mit Verkehrswissenschaft kaum mehr etwas zu tun. Der Heimerl-Vorschlag ist hemdsärmelig, spontan, sprunghaft, widersprüchlich. Bereits seit der sogenannten Schlichtung zu Stuttgart 21 unter Heiner Geißler, bei der Heimerl ebenfalls zeitweise anwesend war und bei der Heimerl einige wenige Sätze gesagt hat, hat man den Eindruck, dass die Äußerungen Heimerls zunehmend ins Hemdsärmelige abgleiten. Heimerl wirkt wie ein Getriebener, der aus der Sache Stuttgart 21 nicht mehr richtig herauskommt.

Heimerl nutzt ein derzeit in der Region Stuttgart bestehendes Vakuum aus
Nun muss man sich fragen, warum es Heimerl immer noch gelingt, sich mit Schnellschüssen und unausgegorenen Vorschlägen zu Stuttgart 21 in der Öffentlichkeit zu melden. Heimerl nutzt hier geschickt ein Vakuum aus. Es gibt derzeit leider in der Region Stuttgart keine Institution oder Persönlichkeit, die die Autorität bzw. das Charisma hätte, diese Region in eine gedeihliche Verkehrszukunft zu führen. 

Das allein ist jedoch nicht der Weltuntergang. Das geht einigen anderen Regionen genauso. Es gibt ein bewährtes Mittel, aus dieser Sackgasse herauszukommen. Das haben bereits Fürsten, Könige und Bischöfe vor vielen Jahrhunderten praktiziert, indem sie Baumeister von Weltrang in ihre Reiche geholt haben. Entsprechend sollte hier und heute die Legislative verfahren. So sollte der neue Stuttgarter Gemeinderat die besten Verkehrsexperten im deutschsprachigen Raum bzw. in Europa beauftragen, die Zukunft der Stuttgarter Stadtbahn in den kommenden 50 Jahren zu skizzieren.

Der Verband Region Stuttgart sollte zusammen mit dem Land Baden-Württemberg genauso verfahren, um für die Zukunft der Stuttgarter S-Bahn und eine zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn Klarheit zu schaffen. Genauso sollte der Landtag von BW zusammen mit dem Stuttgarter Gemeinderat einen Experten beauftragen, der die Zukunft des Straßennetzes in Stuttgart beschreibt (Stichworte sind hier z.B: Bau eines Mittleren Rings, Teilrückbau der Radialstraßen, Teilrückbau des Cityrings mit der Beseitigung aller Tunnels und Tunnelrampen, drastische Reduzierung der Tiefgaragenstellplätze in der Stuttgarter Innenstadt).

Der neue Stuttgarter Gemeinderat, das neue Regionalparlament des Verbands Region Stuttgart und der Landtag von Baden-Württemberg müssen sich daran messen lassen, ob es ihnen gelingt, Weichenstellungen in Sachen Verkehr für die Region Stuttgart zu treffen, die über eine Legislaturperiode hinausreichen und die die Sonder- bzw. Außenseiterrolle Stuttgarts in Sachen Verkehr beenden helfen.                         

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.