Eine der zahlreichen negativen Folgen von Stuttgart 21 für den Regionalverkehr in Baden-Württemberg wird eine Verlängerung der Fahrzeiten im ganzen Land sein. Ursache ist die erforderliche Einarbeitung von größeren Pufferzeiten in die Fahrzeiten. Die Pufferzeiten sind eine unmittelbare Folge der unterdimensionierten Infrastruktur des Stuttgart 21-Tiefbahnhofs.
Was ist denn das jetzt wieder für eine These, so möchte man sich fragen. Behauptet die Stuttgart 21-Propaganda nicht, dass mit Stuttgart 21 die Fahrzeiten für viele Menschen in Baden-Württemberg kürzer werden? Und stellt nicht die Beratungsfirma SMA fest, dass die Fahrzeiten im Regionalverkehr mit den K21-Ausbaumaßnahmen sogar kürzer, allerdings nur ein klein wenig kürzer sind als bei Stuttgart 21?
Von systematischen und keineswegs kleinen Fahrzeitverlängerungen im Regionalverkehr als Folge von Stuttgart 21 in ganz Baden-Württemberg hat jedoch bisher noch kaum jemand geredet, weder die Stuttgart 21-Betreiber noch die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21.
Der Sachverhalt der systematischen Fahrzeitverlängerungen im Regionalverkehr bei Stuttgart 21 hat mit der gegenseitigen Abhängigkeit von Bau und Betrieb zu tun. Heruntergebrochen auf das Fahrzeit-Thema gibt es eine unmittelbare Abhängigkeit zwischen der Dimensionierung einer Infrastruktur und den planmäßigen Fahrzeiten. Je mehr eine Infrastruktur wie z.B. ein Bahnhof oder eine Bahnstrecke unterdimensioniert ist, desto größere Fahrzeiten für die Züge müssen festgesetzt werden. Umgekehrt kann man die planmäßigen Fahrzeiten für die Züge in die Nähe des tatsächlich Fahrbaren bringen, wenn die Infrastruktur (Bahnhof, Strecken) ausreichend dimensioniert ist.
Unterdimensionierung des S21-Tiefbahnhofs zieht Pufferzeiten und damit Fahrzeitverlängerungen im Regionalverkehr nach sich
Jetzt konkret zum Tiefbahnhof bei Stuttgart 21. Dieser Tiefbahnhof ist - das muss inzwischen als gesichertes Wissen gelten - unterdimensioniert. Als unmittelbare Folge daraus müssen in die Fahrzeiten aller auf Stuttgart zuführenden Strecken Pufferzeiten eingebaut werden. Diese Pufferzeiten haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die auf das Stuttgart 21-System zufahrenden Züge keine Verspätungen aufweisen bzw. dass die Wahrscheinlichkeit von Verspätungen ganz gering ist. Die unterdimensionierte Infrastruktur von Stuttgart 21 funktioniert nur, wenn alle Züge mehr oder weniger pünktlich sind. Das erreicht man jedoch nur durch die Einarbeitung von Pufferzeiten in den Fahrplan, die sich unmittelbar fahrzeitverlängernd auswirken.
Kopfbahnhof braucht kaum Pufferzeiten
Der bestehende Kopfbahnhof in Stuttgart ist für das aktuelle Verkehrsaufkommen ausreichend dimensioniert. Dieser Bahnhof kann auch Verspätungen von Zügen auffangen. Hat ein Zug zum Beispiel eine kleinere Verspätung von 5 bis 10 Minuten, ist die Chance groß, dass das für diesen Zug reservierte Gleis im Kopfbahnhof immer noch zur Verfügung steht. Hat ein Zug hingegen eine größere Verspätung von 15 oder noch mehr Minuten, ist die Chance ebenfalls groß, dass für den verspäteten Zug ein anderes Gleis frei ist. Daraus folgt unmittelbar, dass in die derzeit bestehenden Fahrzeiten nur ganz kleine Pufferzeiten eingearbeitet sind.
Beim Stuttgart 21-Tiefbahnhof verhält sich dies ganz anders. Ist dort ein Zug 5 bis 10 Minuten verspätet, steht das für diesen Zug vorgesehene Gleis in den meisten Fällen nicht mehr zur Verfügung bzw. es entstehen Folgeverspätungen für andere Züge. Ist der Zug 15 oder mehr Minuten verspätet, findet sich womöglich auch kein anderes Gleis für den verspäteten Zug, es sei denn, andere Züge werden in ihrem Fahrtablauf beeinträchtigt. Als Folge davon müssen in die Fahrzeiten bei Stuttgart 21 große Pufferzeiten eingearbeitet werden. Diese Pufferzeiten sollen dafür sorgen, dass die Regionalzüge aus allen Landesteilen beim Eintritt in das Stuttgart 21-System mit großer Wahrscheinlichkeit pünktlich sind.
Fahrzeiten im Regionalverkehr werden sich BW-weit um 5 bis 10 Prozent verlängern
Diese zukünftigen Pufferzeiten kann man in erster Näherung auf ca. 5 bis 10 Prozent der Fahrzeiten schätzen. Das heißt, die Fahrzeiten für alle Züge (z.B. von Aalen, Würzburg, Karlsruhe, Tübingen, Ulm, Singen usw.) nach Stuttgart werden sich um den entsprechenden Betrag verlängern.
Die Verkehrsunternehmen behandeln die Komponenten der Fahrzeiten wie ein Betriebsgeheimnis. Die DB wird z.B. kaum darüber Auskunft geben wollen, welcher Anteil an Pufferzeiten in den aktuellen Fahrzeiten enthalten ist. Somit würde auch die Einarbeitung größerer Pufferzeiten bei Stuttgart 21 möglichst ohne großes Aufsehen und ggf. sogar stufenweise über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg vor sich gehen. Und die Züge werden nicht etwa beim Eintritt in das Stuttgart 21-System eine z.B. 5minütige Wartezeit einlegen. Vielmehr werden die Fahrzeiten im gesamten Streckenverlauf verlängert werden, so dass es die Fahrgäste möglichst wenig merken. Die Auswirkungen sind gleichwohl gravierend. Denn die längeren Fahrzeiten werden ihren Teil dazu beitragen, dass das Bahnfahren gegenüber dem Autofahren immer unattraktiver wird.
Wie aussagekräftig ist die Verspätungsstatistik?
Mit den Pufferzeiten kann man in vielfältiger Weise arbeiten und jonglieren - unabhängig von Stuttgart 21. So wäre es für die DB zum Beispiel möglich, einfach die Fahrzeiten ihrer Züge durch die Einarbeitung größerer Pufferzeiten zu verlängern, um ihre Verspätungsstatistik zu schönen. Dadurch wird dann erreicht, dass mehr Züge pünktlich sind und dass die Statistik verbessert wird. Für den Fahrgast ist dadurch aber gar nichts gewonnen, im Gegenteil, es gibt durch die Verlängerung der alle Züge betreffenden planmäßigen Fahrzeiten sogar Nachteile.
Versteckte Pufferzeiten beim Luftverkehr
Machen wir mal einen kurzen gedanklichen Ausflug in den Luftverkehr. Billigfluggesellschaften sind zum Beispiel auch dafür bekannt, dass sie ihre Flugzeuge so lange und so oft wie möglich in der Luft halten wollen. Denn nur in der Luft verdient das Flugzeug Geld. Als Folge davon werden die Aufenthaltszeiten am Boden auf das gerade noch mögliche Maß, z.B. auf eine halbe Stunde gekürzt.
Nun könnte man sich fragen, ob bei diesen kurzen Zeiten am Boden sich nicht spätestens am Abend eine größere Verspätung der Flugzeuge aufsummiert hat. Das ist aber augenscheinlich meist nicht der Fall. Wie funktioniert dieses System also? Nun, es gibt eben doch auch hier Pufferzeiten, wenngleich sie auf den ersten Blick nicht erkennbar sind. Diese Pufferzeiten sind in den planmäßigen Flugzeiten versteckt. Die planmäßigen Flugzeiten werden unter Berücksichtigung ungünstiger Randbedingungen errechnet, z.B. starker Gegenwind oder das Fliegen auf einer etwas umwegigen Route. Diese ungünstigen Randbedingungen treten jedoch oft nicht ein oder sie treten nicht vollständig ein. Als Folge davon ist das Flugzeug meist vor der planmäßigen Zeit am Zielort. Der Rest der Zeit kann dann zum Verspätungsabbau genutzt werden.
Eingleisige Strecken als Beispiel für Fahrzeitverlängerungen wegen unterdimensionierter Infrastruktur
Ein besonders anschauliches Beispiel für eine unterdimensionierte Infrastruktur und die daraus folgenden Verlängerungen der planmäßigen Fahrzeiten sind eingleisige Strecken bei der Bahn. Die Züge begegnen sich im Verlauf eingleisiger Strecken nur in den seltensten Fällen planmäßig dort, wo gerade ein Ausweichgleis in einem Bahnhof oder auf der freien Strecke zur Verfügung steht. Also muss der Zug, der das Ausweichgleis als erstes erreicht, eine mehr oder weniger lange Zeit warten, bis der Gegenzug angekommen ist. Diese Wartezeit ist in den planmäßigen Fahrzeiten enthalten. Aus diesem Umstand ergibt sich dann auch der vielleicht zunächst etwas verwunderliche Effekt, dass sich bei einem zweigleisigen Ausbau von Strecken die Fahrzeiten für alle Züge oft merklich gegenüber dem eingleisigen Zustand verkürzen.
Eingleisige Streckenabschnitte spielen auch bei Stuttgart 21 eine Rolle. Dazu gehören zum Beispiel der Abschnitt zwischen dem Untertürkheimer Tunnel und der Strecke nach Waiblingen und der Abschnitt beim Flughafenbahnhof unter dem Terminal. Den Hauptanteil an der unterdimensionierten Infrastruktur von Stuttgart 21 trägt jedoch der nur achtgleisige Hauptbahnhof bei.
Negative Auswirkungen von Stuttgart 21 auf den Regionalverkehr noch nicht überblickbar
Wir haben im heutigen Post gesehen, dass die unterdimensionierte Infrastruktur von Stuttgart 21 zu einer Fahrzeitverlängerung für alle Regionalzüge in BW führen wird, die über Stuttgart fahren. Dr. Christoph Engelhardt hat in seinen umfangreichen Untersuchungen bereits nachgewiesen, dass Stuttgart 21 nicht einmal dieselbe Zahl an Regionalzügen abwickeln können wird, wie dies heute der Kopfbahnhof schon leistet. Und im Post vom 19.07.2012 in diesem Blog haben wir gesehen, dass selbst der S21-Erfinder Heimerl in einem für das Oberverwaltungsgericht Mannheim gefertigten Gutachten den Verzicht auf die heute verkehrenden, fahrgastfreundlichen Doppelstockzüge im S21-Tiefbahnhof und deren Ersatz durch weniger fahrgastfreundliche Triebwagen ET 425 postuliert. Auch dies wirkt sich auf ganz BW negativ aus.
Schließlich wurde in diesem Blog bereits mehrfach thematisiert, dass bei S21 drei wichtige Strecken des Regionalverkehrs über den Flughafen zwangsumgeleitet werden. Damit fahren die Regionalzüge an für den Regionalverkehr wichtigen Ziel- und Quellorten wie S-Vaihingen oder dem Neckartal zwischen Stuttgart und Wendlingen vorbei. Der wichtige Punkt der massiven Fahrpreissteigerungen im Regionalverkehr als Folge der exorbitant hohen Trassen- und Bahnhofsgebühren bei Stuttgart 21 wurde in diesem Blog noch nicht näher thematisiert.
Die negativen Auswirkungen von Stuttgart 21 auf den Regionalverkehr in BW und damit auf Hunderttausende Menschen werden somit immer deutlicher. Und das Ende der Fahnenstange ist mit den genannten Themen noch lange nicht erreicht. Es wäre an der Zeit, dass ein Eisenbahn-Lehrstuhl z.B. in Zürich oder Wien oder Berlin einmal eine Diplomarbeit in Auftrag gibt, die die Auswirkungen von S21 auf den Regionalverkehr umfassend untersucht.
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