Mindestens 22 neue, zusätzliche höhengleiche Betriebsabwicklungen würde das Projekt Stuttgart 21 aufweisen. Das haben wir in den vergangenen fünf Artikeln in diesem Blog gesehen. Diese höhengleichen Betriebsabwicklungen teilen sich wie folgt auf die einzelnen Schwerpunkte auf:
Bereich Plochingen: 4
Bereich Bad Cannstatt: 3
Bereich Wendlingen: 5
Bereich Rohr: 4
Bereich Flughafen: 6
Nicht berücksichtigt in dieser Aufzählung ist der eingleisige Streckenabschnitt auf der Seite Hauptbahnhof des geplanten zweiten Flughafenbahnhofs. Das haben wir deshalb außen vor gelassen, weil dieser Abschnitt relativ einfach zweigleisig ausgebaut werden könnte. Allerdings würde ein solcher Ausbau zusätzliches Geld kosten und das Nutzen-Kosten-Verhältnis von Stuttgart 21 noch einmal verschlechtern.
Ebenfalls nicht berücksicht haben wir, dass es auch im Stuttgart 21-Hauptbahnhof höhengleiche Betriebsabwicklungen geben würde, zum Beispiel zwischen einem Zug von Waiblingen zum Flughafen und einem Zug von Ludwigsburg nach Esslingen. Diese höhengleichen Betriebsabwicklungen haben ihre Ursache in den Tunnels, die sich auf beiden Seiten des Hauptbahnhofs unmittelbar anschließen und die den Bau von Überwerfungsbauwerken verunmöglichen.
Kein anderes Bahnausbauvorhaben in Europa weist eine solche Vielzahl neuer höhengleicher Betriebsabwicklungen auf wie Stuttgart 21. Das gilt bei einem Vergleich mit den ganz großen Ausbauvorhaben (z.B. London mit Crossrail, Paris mit Grand Paris Express, München mit der zweiten Stammstrecke der S-Bahn, Barcelona mit dem neuen Großbahnhof Sagrera, Zürich mit der Durchmesserlinie, Wien mit dem neuen Hauptbahnhof einschließlich der neuen Zulaufstrecken) genauso wie für die Dutzende von mittleren und kleineren Ausbauvorhaben bei den Bahnknotenpunkten von Oslo bis Palermo und von Moskau bis Lissabon.
Die Alleinstellungsmerkmale von Stuttgart 21
Warum hat das Projekt Stuttgart 21 diese Sonderstellung in Europa inne? Die Antwort ist einfach. Sie ist sogar so einfach, dass man dafür von interessierten Kreisen reflexhaft gescholten wird. Stuttgart 21 ist das einzige der zahlreichen Bahnprojekte in Europa, das seinen Antrieb nicht aus einer Erweiterung der Kapazitäten des Bahnverkehrs bekommt, sondern das seinen Ursprung in Grundstücksverwertungsplänen hat.
Daraus folgt dann auch gleich ein zweites Alleinstellungsmerkmal von Stuttgart 21. Es ist das einzige Bahnprojekt, das einen Bahnknoten nicht etappierbar ausbauen will, sondern das ein Alles-oder-Nichts-Projekt darstellt. Beide Alleinstellungsmerkmale zusammengenommen machen aus Stuttgart 21 den Außenseiter unter den Bahnprojekten in Europa. Und sie führen dazu, dass Stuttgart auf eine Bahnkatastrophe zusteuert, wenn das Projekt nicht noch gestoppt wird.
Was geschieht, wenn mehrere höhengleiche Betriebsabwicklungen zusammenkommen?
Kommen wir noch einmal auf die zahlreichen höhengleichen Betriebsabwicklungen bei Stuttgart 21 zurück. Diese Hindernisse führen dazu, dass zunächst einmal der Fahrplangestaltung die Hände gebunden werden. Viele Wunsch-Fahrtenlagen von Zügen sind nicht verfügbar. Die Züge können nicht dann fahren, wenn die Fahrgäste sie benötigen, sondern dann, wenn gerade eine Fahrtenlage noch frei ist. Die Zahl der möglichen Züge wird stark eingeschränkt. Die Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit des Betriebs leiden.
Mit zunehmender Zahl höhengleicher Betriebsabwicklungen sinkt die Leistungsfähigkeit des Stuttgart 21-Systems überproportional ab. Stellen wir das mal beispielhaft dar. Nehmen wir an, die höhengleiche Betriebsabwicklung Nr. 1 hat ein Behinderungspotenzial von der Größe A. Nehmen wir weiter an, die höhengleiche Betriebsabwicklung Nr. 2 hat ein Behinderungspotenzial von der Größe B. Beide höhengleichen Betriebsabwicklungen zusammengenommen haben nun ein Behinderungspotenzial, das größer ist als die Summe A + B. Das gemeinsame Behinderungspotenzial von Nr. 1 und Nr. 2 ist (A + B) mal sf. "sf" ist hierbei ein Summenfaktor, dessen Wert wir hier nicht bestimmen wollen. Es bleibt allein festzuhalten, dass "sf" größer als eins ist. Mit jeder hinzukommenden höhengleichen Betriebsabwicklung wird der Summenfaktor sf größer. Bei einem System mit einer solchen Vielzahl höhengleicher Betriebsabwicklungen wie Stuttgart 21 sind die Leistungsobergrenze sehr tief, der Kollaps des Systems sehr nahe und Möglichkeiten zur Störungsbeseitigung kaum vorhanden.
Gab es Gutachten zu Stuttgart 21, die nur den engen Bereich um den Hauptbahnhof zum Inhalt hatten?
Nun gab es möglicherweise Gutachten zu Stuttgart 21, die sich ausschließlich auf den Hauptbahnhof von Stuttgart 21 beschränkt haben und die die zahlreichen höhengleichen Betriebsabwicklungen in der Peripherie von Stuttgart 21 nicht berücksichtigt haben. Solche Gutachten mögen im Einzelfall ihre Berechtigung haben, um zum Beispiel ganz bestimmte Details zu bewerten. Für eine Gesamtbewertung von Stuttgart 21 taugen diese Gutachten jedoch nicht. Sollte es solche Gutachten geben, müsste in diesen Gutachten an ganz prominenter Stelle darauf hingewiesen werden, dass diese Gutachten lediglich einen ganz kleinen Teil von Stuttgart 21 bewerten und nicht für eine Gesamtbewertung und eine Entscheidung zum Bau von Stuttgart 21 herangezogen werden können. Sollte es diese Gutachten geben, sollte weiterhin in diesen Gutachten ein entsprechender Hinweis fehlen und sollte die Politik auf Grund dieser Gutachten eine Entscheidung zum Bau von Stuttgart 21 als Solches getroffen haben, dann besteht m.E. eine gute Chance für die Stuttgart 21-Projektpartner, von den Gutachtern im Rahmen des Zivilrechts alle bisher getätigten Aufwendungen für Stuttgart 21 plus der Aufwendungen für den Rückbau einzufordern.
War es korrekt, dass die Genehmigungsbehörden Baugenehmigungen zu einzelnen Abschnitten des Alles-oder-Nichts-Projekts Stuttgart 21 ausgesprochen haben?
Auch die Genehmigungsbehörden sind in diesem Zusammenhang einer Betrachtung wert. Die Genehmigungsbehörden haben ja beim Alles-oder-Nichts-Projekt Stuttgart 21 Baugenehmigungen (Planfeststellungsbeschlüsse) für einzelne Abschnitte ausgesprochen. Diese Baugenehmigungen für Teile von Stuttgart 21 sind nicht viel wert, wenn das Projekt als Ganzes schwere Mängel aufweist und deshalb nicht gebaut werden kann. Sollte eine Genehmigungsbehörde eine Baugenehmigung für einen Abschnitt von Stuttgart 21 ausgesprochen haben, ohne dass eine belastbare Untersuchung über die Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 insgesamt einschließlich aller höhengleichen Betriebsabwicklungen vorlag, wobei diese Untersuchung einen eindeutigen Kapazitätszuwachs beim Bahnverkehr von Stuttgart 21 gegenüber dem Bestand dargelegt haben müsste, dann liegt Staatsversagen vor. In diesem Fall könnte m.E. die Bahn als Projektbetreiber von Stuttgart 21 alle bisher getätigten Aufwendungen für Stuttgart 21 sowie alle Kosten für den Rückbau und den Bau von Alternativen von Bund und Land einfordern.
Gutachter SMA: "Aufgrund der Brisanz der vorliegenden Resultate ist absolutes Stillschweigen erforderlich"
Gibt es nun belastbare, gerichtsfeste Untersuchungen zur Leistungsfähigkeit des gesamten Stuttgart 21-Systems und zu dessen Überlegenheit gegenüber dem heutigen Zustand? Mir ist zunächst mal diesbezüglich nur das Gutachten von SMA bekannt, das die frühere Landesverkehrsministerin Gönner beauftragt hat. Dieses Gutachten aus dem Jahr 2008 stellt Engpässe beim Verkehrsfluss fest, identifiziert erhebliche Konflikte zwischen dem Fernverkehr, den Regionalzügen und der S-Bahn und spricht von Nachteilen beim S-Bahnverkehr. Durch die Blume wird in diesem Gutachten das Gesamtsystem Stuttgart 21 als ein ganz großer Engpass klassifiziert. In einem Aktenvermerk von SMA heißt es zu dem Gutachten: "Aufgrund der Brisanz der vorliegenden Resultate ist absolutes Stillschweigen erforderlich". Das Gutachten wurde konsequenterweise von der damaligen Landesregierung zunächst als geheim eingestuft....
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