Das Verhalten der Grünen in Baden-Württemberg im Zusammenhang mit dem Projekt Stuttgart 21 gibt Rätsel auf und muss immer wieder analysiert werden. Wie konnte es geschehen, dass eine Partei sich vor einer Landtagswahl als klarer Gegner von Stuttgart 21 zu erkennen gab, dass diese Partei nur wegen dieser Gegnerschaft zu Stuttgart 21 den ersten Grünen Ministerpräsidenten in Deutschland stellen konnte und dass trotz dieser klaren Ausgangslage dann trotzdem nach der Landtagswahl in Sachen Stuttgart 21 alles vergeigt und falsch gemacht wurde, was nur vergeigt und falsch gemacht werden kann.
Für eine umfangreiche Analyse dieser Politikkatastrophe sind wissenschaftliche Untersuchungen und Arbeiten erforderlich, die wir hier in diesem Blog selbstverständlich nicht leisten können. Wir backen hier kleinere Brötchen und konzentrieren uns jetzt mal auf einen einzigen Sachverhalt.
Dieser Sachverhalt ist im Vorfeld der letzten Wahl zum Landtag von Baden-Württemberg kaum beachtet worden und möglicherweise auch heute im kollektiven Gedächtnis nicht mehr präsent. Es geht darum, dass die Grünen bereits im Landtagswahlkampf Plakate aufgestellt haben, die eine Volksabstimmung zu Stuttgart 21 forderten.
Bei näherer Betrachtung wird man ob dieser Plakate und angesichts einer solchen Forderung stutzig. War die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 nicht die originäre Idee der SPD? Die SPD wollte doch mit Hilfe dieser Volksabstimmung die große Kluft überbrücken, die innerhalb dieser Partei zu Stuttgart 21 bestand.
Bei den Grünen bestand eine solche Kluft - zumindest nach außen hin - jedoch nicht, wenn man von ganz wenigen Einzelmeinungen absieht, die sich gegen die Parteilinie wandten. Warum also plakatierten die Grünen im Vorfeld der Landtagswahl Plakate mit der Forderung nach einer Volksabstimmung zu Stuttgart 21?
Die Koalition in der Opposition sollte es nicht geben
SPD und Grüne waren vor der letzten Landtagswahl in der Opposition. Es gibt einen Grundsatz in der Demokratie, wonach es eine Koalition in der Opposition nicht geben sollte. Eine Oppositionspartei soll sich darauf konzentrieren, die Arbeit der Regierung kritisch zu betrachten und bessere Gegenentwürfe zu erarbeiten. Eine Anpassung an eine andere Oppositionspartei findet in der Opposition nicht statt und gehört nicht zu den Aufgaben einer Partei, die sich in der Opposition befindet.
Warum haben also die Grünen im Wahlkampf Plakate mit einer originären SPD-Forderung geklebt? Möglicherweise waren die Grünen selbst in der Opposition schon überfordert. Denn den Grundsatz, wonach man in der Opposition keine Koalition bilden sollte, wurde von den Grünen auch in anderer Hinsicht nicht immer beachtet.
So trat Kretschmann im Wahlkampf auffallend oft zusammen mit dem heutigen Wirtschafts- und Finanzminister Schmid (SPD) auf. Den Gipfel der Kretschmann`schen Unverfrorenheit bildete ein gemeinsamer Wahlkampfauftritt mit Schmid auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Für diesen Wahlkampfauftritt haben die Grünen mit vielen Plakaten Werbung gemacht, allerdings ohne den Co-Auftritt Schmids auch nur mit einem Wort zu erwähnen.
Praktisch alle Zuhörer auf dem Schlossplatz waren Gegner von Stuttgart 21 und sie waren ausschließlich aus dem einen Grund auf den Schlossplatz gekommen, um von Kretschmann eine schwungvolle Rede gegen Stuttgart 21 zu hören. Als dann der Stuttgart 21-Befürworter Schmid die Bühne betrat, blieb dem Publikum vor Staunen und vor Entsetzen der Mund offen. Eine solche Unverfrorenheit seitens der Grünen hätte man nicht erwartet. Freilich nahm man damals diese Warnsignale noch nicht wahr. Hauptziel war damals, dass Mappus (CDU) abgewählt wird.
Wollten sich die Grünen beim zukünftigen potenziellen Koalitionspartner anbiedern?
Nun war im Vorfeld der Landtagswahl die Erwartung, dass in einer Koalition zwischen SPD und Grünen die SPD der stärkere Partner sein würde. Dass es nachher andersherum kommen würde, hätte man vor der Wahl nicht für möglich gehalten. Es gab bereits vor der Wahl eine Aussage Schmids (SPD), dass die SPD nur mit einem Partner koalieren wolle, der zu Stuttgart 21 eine Volksabstimmung abhalten wolle.
Vor diesem Hintergrund könnte man vermuten, dass sich die Grünen bei der SPD, dem zukünftigen potenziellen Koalitionspartner, einfach anbiedern wollten. Sollte es so gewesen sein, wäre dies allerdings zu verurteilen. Denn in der Opposition biedert man sich nicht einer anderen Partei an, sondern vertritt seine eigene Auffassung unverbogen und zu 100 Prozent.
Sind die Grünen Freunde von Bürgerbeteiligungen und von Volksabstimmungen?
Nun könnte man als weiteren Grund für das Plädoyer der Grünen für eine Volksabstimmung zu Stuttgart 21 nennen, dass die Grünen eben glühende Befürworter einer größeren Bürgerbeteiligung und von Volksabstimmungen sind. Und allein aus diesem Grund haben die Grünen für eine Volksabstimmung zu Stuttgart 21 plädiert und im Wahlkampf geworben.
Bei näherer Betrachtung tun sich hierzu jedoch weitere Fragen auf. Wenn die Grünen solche Befürworter von Volksabstimmungen wären, hätten sie doch sicher auch für eine Volksabstimmung zum Nationalpark Schwarzwald plädiert. Oder es hätte auch eine Volksabstimmung zu den Windkraftanlagen gegeben, oder man hätte eine Volksabstimmung dazu veranstaltet, ob man mehr Syrien-Flüchtlinge aufnehmen soll.
Außer zu Stuttgart 21 haben jedoch die Grünen nicht einmal im Entferntesten eine Volkabstimmung zu irgendeinem anderen Landesthema ins Auge gefasst. In Sachen Nationalpark haben sie sogar dezidiert jegliche Volksabstimmung abgelehnt. Damit bleibt die Frage weiterhin unbeantwortet, warum die Grünen im Landtagswahlkampf für eine Volksabstimmung zu Stuttgart 21 geworben haben.
Im Wahlkampf wirbt man nicht mit einer Volksabstimmung
Die Werbung der Grünen im Landtagswahlkampf für eine Volksabstimmung zu Stuttgart 21 wird auch noch aus einem anderen Grund immer rätselhafter. Ein Wahlkampf ist schließlich nicht dazu da, irgendwelche Themen unter den Vorbehalt einer Volksabstimmug zu stellen. Vielmehr vertreten die Parteien im Wahlkampf ihre ureigene Meinung zu einem bestimmten Thema, ohne Wenn und Aber, zu 100 Prozent.
So vertritt die CSU ja zum Beispiel auch ihr Betreuungsgeld zu 100 Prozent und stellt es nicht unter den Vorbehalt einer Volksabstimmung. Die SPD kämpft zu 100 Prozent für ihren Mindestlohn von 8,50 Euro und schwächt diesen Kampf nicht dadurch ab, dass sie eine Volksabstimmung zu diesem Thema ankündigt. Die Partei Die Linke wirbt zu 100 Prozent dafür, dass sich die Bundeswehr nicht mehr an Kriegseinsätzen im Ausland beteiligt und relativiert diese Werbung nicht dadurch, dass sie eine Volksabstimmung zu den Kriegseinsätzen der Bundeswehr im Ausland fordert. Warum haben die Grünen im Landtagswahlkampf nicht zu 100 Prozent gegen Stuttgart 21 gekämpft? Warum haben sie ihren Kampf und ihre Meinung zu Stuttgart 21 dadurch relativiert, dass sie eine Volksabstimmung zu diesem Thema plakatiert haben?
Wurde die Niederlage der Stuttgart 21-Gegner in der Volksabstimmung von den Grünen gezielt einkalkuliert?
Da wir bisher keine befriedigende Antwort auf das Herumgeeiere der Grünen erhalten haben, müssen wir jetzt das fast Undenkbare denken. Möglicherweise sind die Grünen von den Stuttgart 21-Protagonisten unterwandert, möglicherweise gibt es U-Boote bei den Grünen, die dazu da sind, den Grünen eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung von Stuttgart 21 zuzuweisen.
Die Strategen der Grünen haben im Vorfeld des Landtagswahlkampfs genau gewusst, wie problematisch eine Volksabstimmung zu Stuttgart 21 ist. Sie haben genau gewusst, dass das mächtige Stuttgart 21-Kartell mit viel Geld und mit der Aufbietung von Werbeprofis alles daransetzen wird, die Bevölkerung auf seine Seite zu ziehen. Und sie haben gewusst, dass im Falle einer verlorenen Landtagswahl die CDU alles daransetzen wird, eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 zu einer Revanche für die verlorene Landtagswahl umzudeuten.
Der Publizist Albrecht Müller (SPD), ehemaliger Planungschef des Bundeskanzleramts unter den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt und heutiger Autor und Herausgeber der "Nachdenkseiten" erklärte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 20.10.2013 in der Sendung "Information und Musik", dass er von einem Mitgliederentscheid bei der SPD zur eventuellen Großen Koalition im Bund nichts halte. Er begründete dies damit, dass die Mitglieder der SPD rechtzeitig vor der Abstimmung von den Kreisen, die die Große Koalition wollten, über entsprechende Artikel in der Bildzeitung und in Spiegel online auf Kurs gebracht würden. Der Mitgliederentscheid gerät somit zur bloßen Schauveranstaltung.
In diesem Zusammenhang erinnert man sich an eine Meinungsäußerung von Alt-Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) zum Thema Volksabstimmung. Teufel lehnte Volksabstimmungen ab. Er begründete dies damit, dass die Demokratie in Deutschland dafür noch zu jung sei. Mit dieser Äußerung rief Teufel einen Sturm der Entrüstung bei den damaligen Oppositionsparteien und auch bei der großen Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 hervor. Betrachtet man jedoch die Meinungsäußerung Teufels unter dem Aspekt, dass es anscheinend in Deutschland nicht möglich ist, eine Volksabstimmung auf der rein sachlichen, fachlichen und argumentativen Ebene zu halten und dass stattdessen mächtige Kreise mit viel Geld solche Volksabstimmungen kapern, dann muss man Teufel nachträglich recht geben.
Wenn man wie die Grünen trotz dieser schwierigen Gemengelage in Sachen Volksabstimmung das zentrale Wahlkampfthema - Stopp von Stuttgart 21 - durch die Ankündigung einer Volksabstimmung relativiert, bleiben nur zwei Schlussfolgerungen. Entweder sind die Grünen unerfahren, unbedarft und somit nicht politikfähig. Oder die Grünen sind unterwandert.
Fazit
Die Grünen sind gefordert, die Umstände ihres Landtagswahlkampfs und ihrer Haltung zu Stuttgart 21 aufzuklären. Das ist keine Lapalie, denn hier steht möglicherweise eine der größten Wählertäuschungen im Raum, den es in BW bisher gegeben hat. Es empfiehlt sich für die Grünen, ähnlich wie bei der Pädophiliedebatte hierzu einen externen Gutachter zu beauftragen.
Die Wähler der Grünen haben Kretschmann mit einem großen Vertrauensvorschuss belegt. Das Gekrächze und Gestammele von Kretschmann nahm man achselzuckend hin. Denn alle glaubten, dass Kretschmann schon das Richtige tun würde und dass er den entscheidenden Stoß gegen Stuttgart 21 schon in der Hinterhand haben würde.
Das Verhalten der Grünen und von Kretschmann in Sachen Stuttgart 21 wird längerfristige Auswirkungen auf den zukünftigen Erfolg dieser Partei haben. M.E. bleibt für die Grünen nur die Flucht nach vorn und die Einleitung einer schonungslosen Aufbearbeitung der Angelegenheit.
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