Wie sieht die Zukunft des Fernverkehrs bzw. Hochgeschwindigkeitsverkehrs der Bahn aus? Um sich einer Beantwortung dieser Frage zu nähern, sind keineswegs hellseherische Fähigkeiten gefragt. Man muss sich hierzu lediglich ansehen, was in einigen anderen Ländern in Sachen Bahnverkehr bzw. Hochgeschwindigkeitsverkehr zur Zeit bereits praktiziert wird.
Es scheinen sich zwei mögliche Richtungen herauszukristallisieren, in die der Bahn-Fernverkehr der Zukunft in Deutschland gehen könnte. Für die eine Richtung sollen hier mal die Länder China und Spanien stehen, für die andere Richtung steht die Schweiz Pate. Heute gilt es in diesem Blog zu zeigen, dass Stuttgart 21 für die Bedürfnisse eines zukünftigen Bahn-Fernverkehrs vollkommen ungeeignet ist, egal, in welche Richtung sich der Fernverkehr in Deutschland entwickeln wird.
Als ich vor einiger Zeit eine Internetseite der chinesischen Eisenbahnen für ausländische Touristen ansah, staunte ich nicht schlecht. Es wurde auf dieser Seite für Touristen, die mal einen ersten Eindruck vom chinesischen Hochgeschwindigkeitsverkehr bekommen wollten, empfohlen, die relativ kurze Strecke Peking - Tianjin auszuprobieren. Gleichzeitig wurde jedoch darauf hingewiesen, dass die Abfertigung der Fahrgäste im chinesischen Hochgeschwindigkeitsverkehr so ähnlich ablaufe wie im Luftverkehr und dass man mindestens eine Stunde vor der planmäßigen Abfahrt des Zuges am Bahnhof sein müsse. Denn man muss dort genauso wie am Flughafen zunächst mal durch die Sicherheitskontrollen gehen.
Überraschung in Girona
Vor wenigen Tagen hatte ich im katalonischen Girona einen ähnlichen Überraschungseffekt. Ich war als Tourist für einen Tag in dieser wunderschönen Stadt mit ihrer grandiosen mittelalterlichen Altstadt in der Nähe der Costa Brava. Erst im Januar 2013 wurde in Girona ein viergleisiger unterirdischer Bahnhof mit unterirdischer Durchquerung der Stadt für den Hochgeschwindigkeitsverkehr (Barcelona - Paris) eröffnet. Diesen Bahnhof wollte ich fotographieren.
Vom weiterhin bestehenden konventionellen Bahnhof wird man über einen langen Gang zu den Gleisen mit den Nummern 11 bis 14 des neuen Bahnhofs geleitet. Dann geht es über Treppen und Fahrtreppen zu einem Fußgänger-Zwischengeschoß. Dort war für mich aber bereits das Ende der Reise angesagt. Denn dort stand man vor Schranken und Apparaturen für Sicherheitskontrollen, wie man sie von Flughäfen her kennt. Auf einem Schild stand zu lesen, dass die Sicherheitskontrollen zwei Minuten vor der planmäßigen Abfahrt eines Zuges geschlossen werden. Man konnte noch sehen, wie hinter den Sicherheitskontrolleinrichtungen weitere Fahrtreppen in die Tiefe führten. Vor den Kontrolleinrichtungen warteten einige Abholer auf Fahrgäste, die mit dem nächsten Zug in Girona ankommen sollten.
Separate Bahnsteige für den Fernverkehr erforderlich
Versuchen wir mal, dieses Betriebsprogramm auf den Stuttgarter Hauptbahnhof zu übertragen. Zunächst einmal müssen dann für den Fernverkehr separate Bahnsteige vorhanden sein, die nicht von anderen Zügen (Regionalzügen) angefahren werden. Dann muss - wie das beim Flughafen bei den Warteräumen ja auch der Fall ist - jeder Bahnsteig exklusiv für die Fahrgäste eines Fernzugs reserviert sein. Überschneidungen darf es nicht geben. Wie lange belegt nun ein Fernzug einen Bahnsteig?
Wir versuchen mal, das größenordnungsmäßig nachzuvollziehen. Nehmen wir an, dass ein Fernzug zur Minute 00 planmäßig vom Bahnhof abfährt. Die nächsten fünf Minuten bis zur Minute 05 müssen dann mindestens für eventuelle Verspätungen des Fernzugs reserviert werden. Die folgenden fünf Minuten bis zur Minute 10 müssen dafür reserviert werden, dass kontrolliert werden kann, ob auch alle Fahrgäste in den Zug eingestiegen sind oder ob aus irgendwelchen Gründen sich noch Fahrgäste auf dem Bahnsteig befinden. Ebenfalls muss kontrolliert werden, ob sich herrenlose Gegenstände auf dem Bahnsteig befinden.
Ab der Minute 10 können dann die Fahrgäste für den nächsten Fernzug, von den Fußgängerpassagen her kommend, durch die Sicherheitskontrollen gehen, die Treppen hinabgehen und sich langsam auf dem Bahnsteig verteilen. Nehmen wir an, dass die Sicherheitskontrollen fünf Minuten vor der Abfahrt des Zuges schließen. Dann wären die Sicherheitskontrollen zwischen den Minuten 10 und 25 in Betrieb, also 15 Minuten lang. Das ist für die Fahrgäste eines Fernzugs von 400 Meter Länge keine besonders lange Zeit. Der Fernzug kommt dann planmäßig zur Minute 26 im Bahnhof an und fährt planmäßig nach einer Haltezeit von vier Minuten zur Minute 30 wieder ab.
Überschläglich haben wir somit festgestellt, dass bei einem Betriebsprogramm wie es in China und in Spanien und möglicherweise auch noch in anderen Ländern praktiziert wird, ein Fernzug bzw. Hochgeschwindigkeitszug eine Bahnsteigbelegungszeit von mindestens 30 Minuten hat. Der neue Fernverkehrsbahnhof von Girona mit seinen zwei Bahnsteigen mit vier Gleisen ist hierfür ausreichend dimensioniert. Zur Zeit fährt dort ein Hochgeschwindigkeitszug alle zwei Stunden pro Richtung (im Berufsverkehr jede Stunde). Das Betriebsprogramm läuft erst so langsam hoch. Direkte TGV-Züge Barcelona-Paris werden erst im Laufe des Jahres 2013 eingerichtet. Der Hochgeschwindigkeitsverkehr wird jedoch nie so stark werden, dass die vorhandenen Bahnsteige hierfür nicht mehr ausreichen.
In Stuttgart sind bis zu zwölf Bahnsteige allein für Fernzüge erforderlich
In Stuttgart haben wir in der morgendlichen Spitzenstunde bereits heute eine Abfahrt von acht Fernzügen. Bei einer Bahnsteigbelegungszeit von 30 Minuten pro Fernzug benötig man somit mindestens vier Bahnsteige. Diese Bahnsteige müssen exclusiv für die Fernzüge zur Verfügung stehen. Das gilt aber nur, wenn sich die Fernzüge genau alle 30 Minuten folgen. Ansonsten benötigt man bis zu acht Bahnsteige. Das ist aber noch nicht alles. Die Zahl der Fernzüge sollte sich ja in der Zukunft erhöhen. Nehmen wir zehn oder zwölf Fernzüge pro Spitzenstunde an, benötigt man bis zu zwölf Bahnsteige allein für Fernzüge. Und das darf man nicht verwechseln mit der Zahl der Bahnsteiggleise. Sondern es handelt sich hier um Bahnsteige, die jeweils für nur einen Fernzug zur Verfügung stehen müssen (Der Stuttgart 21-Tiefbahnhof hat insgesamt acht Bahnsteiggleise und vier Bahnsteige).
Interessant ist, dass andere neue Bahnhöfe in Europa tatsächlich genau so dimensioniert werden. Der im Bau befindliche neue Bahnhof Barcelona-Sagrera hat zehn Bahnsteiggleise bzw. fünf Bahnsteige (mit zwölf Metern Breite) für den Fernverkehr und acht Bahnsteiggleise bzw. vier Bahnsteige für den Regionalverkehr, zusammen also 18 Bahnsteiggleise und neun Bahnsteige. Hierbei muss man berücksichtigen, dass der Bahnverkehr in Spanien wegen des weniger dichten Streckennetzes nicht so stark ist wie in Deutschland.
Entwickelt sich der Fernverkehr nach dem Vorbild der Schweiz?
Der Fernverkehr in Deutschland könnte sich aber in der Zukunft auch ganz anders entwickeln, gemäß dem Vorbild Schweiz. Hierzu müsste der Fernverkehr bzw. Hochgeschwindigkeitsverkehr ein wenig von seinem hohen Ross heruntersteigen. Der Fernverkehr würde dann besser mit den anderen Bahnverkehren integriert. Die Durchgängigkeit beim Fahrplan und beim Tarif zwischen Fern- und Regionalverkehr würde verbessert. Die Tarife bei den Fernzügen würden gesenkt. Die Fernzüge würden nicht mehr ganz so schnell fahren, aber immer noch schnell genug. Statt dessen würde man in erster Linie darauf achten, dass die Fahrgäste in den Bahnhöfen schnelle Anschlüsse zwischen allen Zügen haben.
Mein Favorit ist diese letztgenannte Variante. Ich bin davon überzeugt, dass diese Variante wesentlich mehr Fahrgäste zur Bahn und weg vom Auto bringt als die erstgenannte Variante mit dem exklusiven Hochgeschwindigkeitsverkehr. Aber vielleicht ist gerade dies der Grund, weshalb man sich im Autoland Deutschland so schwer mit der Einrichtung eines integralen Taktfahrplans und eines integralen Eisenbahnverkehrssystems tut.
Jedenfalls benötigt man bei der Variante eines integralen Verkehrssystems mit dem Fernverkehr als Bestandteil ebenfalls sehr viel mehr Bahnsteige als dies bei Stuttgart 21 vorgesehen ist. Für einen guten integralen Taktfahrplan benötigt man für den Stuttgarter Hauptbahnhof ca. 20 Gleise, wobei hier keine Trennung zwischen den Bahnsteigen für den Fernverkehr und für den Regionalverkehr erfolgen muss.
Fazit
Egal in welche Richtung sich der Fernverkehr und der Hochgeschwindigkeitsverkehr in Deutschland entwickeln werden, Stuttgart 21 versagt in jedem Fall. Das Stuttgart 21 zugrundeliegende Verkehrskonzept ist unrealistisch und nicht in der Lage, den zukünftigen Bahnverkehr abzuwickeln. Diese Feststellung wird dadurch bestätigt, dass das Betriebskonzept von Stuttgart 21 mit seinem nur achtgleisigen Hauptbahnhof nirgendwo anders in Europa ein zweites Mal vorhanden ist.
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