Sowohl die Ergänzungsstation beim Stuttgarter Hauptbahnhof als auch das Nordkreuz stehen im Koalitionsvertrag BW 2021.
Während jedoch der Bau der Ergänzungsstation höchste Dringlichkeit genießt, ist das Nordkreuz nur als "perspektivisch" dargestellt. Es liegt also noch weit in der Zukunft.
Es gibt verschiedene allgemeine Argumente gegen das Nordkreuz und den Betrieb von tangentialen S-Bahnlinien. In Bezug auf das Nordkreuz gibt es jedoch auch drei spezifische Sachverhalte, die einen Betrieb des Nordkreuzes wohl unwirtschaftlich werden lassen. Jetzt kommt noch hinzu, dass man der Landeshauptstadt Stuttgart den Bau der Ergänzungsstation mit einem Verzicht auf das Nordkreuz schmackhaft machen könnte. Denn der Bau eines Nordkreuzes würde nicht ohne Eingriffe in Flächen stattfinden können, seien es Parkflächen oder (potenzielle) Flächen für den Wohnungsbau.
Die drei spezifischen Argumente gegen das Nordkreuz
1. Es gibt zur Zeit auf der Ebene des Verbands Region Stuttgart Bestrebungen, die Schusterbahn (Untertürkheim-Münster-Kornwestheim) in das S-Bahnnetz einzubinden und attraktiver zu machen. Die Schusterbahn ist eine tangentiale Bahnlinie (tangentiale Bahnlinien sind solche, die weder den Hauptbahnhof noch die Innenstadt anfahren). Zwar deckt die Schusterbahn nicht alle Relationen ab, die das Nordkreuz abdecken könnte. Sie deckt jedoch einige der Relationen des Nordkreuzes ab und entzieht dem Nordkreuz Fahrgäste.
2. Es gibt beim Tiefbahnhof von Stuttgart 21 eine MEX-Relation von Ludwigsburg nach Esslingen. Auch diese Relation deckt nicht alle Relationen ab, die das Nordkreuz abdecken könnte. Jedoch deckt sie einige der Relationen ab und entzieht dem Nordkreuz weitere Fahrgäste. (Zum Punkt 2 wäre noch anzumerken, dass ich nicht über Nacht zu einem Befürworter von Stuttgart 21 geworden bin. Die Relation Ludwigsburg-Hauptbahnhof-Esslingen wäre auch mit einer Durchmesserlinie (Kombibahnhof), wie sie vor Stuttgart 21, vor dem Jahr 1994 geplant war, möglich gewesen.
3. Der neue S-Bahnhaltepunkt Mittnachtstraße verlängert die Fahrzeit für die radialen Linien der S-Bahn. Für die Übereck-Umsteiger wird die Fahrzeit jedoch um ca. 5 Minuten verkürzt. Auch dies tritt unmittelbar in Konkurrenz zum Nordkreuz, dem dadurch weitere Fahrgäste entzogen werden.
Kommen wir jetzt zu den allgemeinen Argumenten gegen das Nordkreuz und gegen tangentiale S-Bahnlinien
Es gibt solche tangentialen S-Bahnlinien in Deutschland so gut wie nicht. Lediglich die ganz großen Mega-Cities in Europa (Moskau, London, Paris) haben Ring-U-Bahnlinien bzw. sind im Begriff, solche zu bauen.
Die Region Stuttgart ist mehrere Dimensionen kleiner als diese Mega-Cities. Es gibt, wenn man tangentiale S-Bahnlinien in der Region Stuttgart betreiben will, nur eine Alternative. Entweder man nimmt in Kauf, dass diese Linien bei gleichem Takt wie die radialen Linien halbleer durch die Gegend fahren. Oder man plant für die tangentialen S-Bahnlinien eine längere Taktfolge. Das aber hat gravierende Auswirkungen auf die Attraktivität dieser tangentialen Linien.
Die Nachfrage nach S-Bahnverkehrsleistungen ist in radialer Richtung (Hauptbahnhof, Innenstadt) grundsätzlich wesentlich größer als in tangentialer Richtung (ohne Hauptbahnhof, ohne Innenstadt). Bei gleicher Taktfolge sind somit die tangentialen Linien nicht ausgelastet. Sie kosten aber ebenfalls Geld und nehmen den radialen Linien teilweise die Fahrtenlagen weg. Fahren jedoch die tangentialen Linien in einer größeren Taktfolge als die radialen Linien, werden sie für die Fahrgäste schnell unattraktiv. Selbst diejenigen Fahrgäste, die eigentlich mit den tangentialen Linien fahren könnten, werden sich dann überlegen, ob sie mit den radialen Linien und einmal Umsteigen nicht doch schneller am Ziel sind.
Das Nordkreuz gehört in die Verhandlungsmasse
Das Land BW sollte das Nordkreuz in die Verhandlungsmasse mit der Landeshauptstadt Stuttgart einbringen und den Bau der Ergänzungsstation mit einem Verzicht auf das Nordkreuz der Stadt schmackhaft machen.
Ohne Stuttgart 21 hätte die zweite Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn alle Wünsche erfüllt
Es wird ja gar nicht bestritten, dass es in der Relation von Plochingen-Esslingen-Bad Cannstatt nach Zuffenhausen-Ludwigsburg-Bietigheim eine starke Verkehrsnachfrage gibt. Nicht ohne Grund waren dies die ersten württembergischen Eisenbahnstrecken. Wäre Stuttgart 21 nicht gebaut worden, hätte man diese Verkehrsnachfrage durch eine radiale Verkehrslösung abdecken können.
Die zweite Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn wäre von Bad Cannstatt über den Hauptbahnhof und unter der Kriegsbergstraße, dem Hegelplatz, der Hegelstraße, dem Kräherwald und dem Killesberg nach Feuerbach und Zuffenhausen geführt worden.
Damit wäre es möglich gewesen, auf allen Außenästen der S-Bahn den 10-Minuten-Takt einzuführen. Von allen Außenästen der S-Bahn (Plochingen bis Weil der Stadt) hätte man dann alternierend jeweils in die erste Stammstrecke und in die zweite Stammstrecke fahren können.
Ein kleines Beispiel: Von Bietigheim wäre alle 20 Minuten eine S-Bahn über den Nordbahnhof und die erste Stammstrecke zum Flughafen und weiter gefahren. Ebenfalls alle 20 Minuten wäre von Bietigheim eine S-Bahn über die zweite Stammstrecke (Feuerbach-Hegelplatz) zum Hauptbahnhof gefahren und weiter nach Plochingen und Kirchheim/Teck. Beide Linien hätten sich im Bietigheimer Ast zu einem 10-Minuten-Takt überlagert. So wäre es mit den anderen Außenästen der S-Bahn ebenfalls gegangen. Die erste Stammstrecke wäre von heute 24 auf 18 Züge pro Stunde und Richtung entlastet worden (analog dem Vorgehen in München). Die zweite Stammstrecke hätte zunächst mal 9 Züge pro Stunde und Richtung abgefertigt. Sie wäre offen gewesen für neue Angebote, z.B. die Express-S-bahnlinie von Calw-Weil der Stadt, die man dann in Richtung Kirchheim/Teck durchbinden könnte.
Zunächst gilt es jetzt aber, die Ergänzungsstation in trockene Tücher zu bekommen. Erst später kann dann überlegt werden, ob und in welcher Form eine zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn noch verwirklicht werden kann.
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