Sonntag, 6. Januar 2013

Die österreichische Westbahn - ein Vorbild für die Nach-Stuttgart 21-Zeit

Die Westbahn ist die wichtigste Bahnstrecke Österreichs. Diese von Wien über St. Pölten und Linz nach Salzburg verlaufende Strecke befindet sich zufällig auch im Verlauf derselben europäischen Magistrale Paris-Bratislava wie die Bahnstrecke Stuttgart-Ulm-Augsburg.

Die Westbahn wird seit Jahren Stück für Stück ausgebaut. Erst jetzt zum Fahrplanwechsel im Dezember 2012 wurde zwischen Wien und St.Pölten ein wichtiger Neubauabschnitt im Rahmen des viergleisigen Ausbaus der Bahnstrecke eröffnet.

Es lohnt sich, den Ausbau der Westbahn ein wenig näher zu betrachten. Denn der Ausbau der Westbahn umfasst bis ins Detail alle diejenigen Maßnahmen, die viele unabhängige Fachleute und auch die große Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 seit Jahren für den Ausbau der Bahnknoten Stuttgart und Ulm und für den Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm-Augsburg bewerben.

Die österreichische Westbahn ist also ein ernsthafter Kandidat einer Vorbildstrecke für die Nach-Stuttgart 21-Zeit hier in Baden-Württemberg und im angrenzenden Bayern. Je früher sich die zuständigen Politiker und Verwaltungen mit den Details des Ausbaus der österreichischen Westbahn befassen, desto rascher und wirkungsvoller kann nach dem Stopp von Stuttgart 21 ein sinnvoller Ausbau der Bahnknoten Stuttgart und Ulm sowie des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm-Augsburg in die Gänge kommen.

Schauen wir uns einmal die wesentlichen Elemente des Ausbaus der Westbahn an. Hierbei ziehen wir dann jeweils eine Schlussfolgerung für den Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm-Augsburg und der Bahnknoten Stuttgart und Ulm.


1. Etappierbarer Ausbau und Inbetriebnahme einzelner Abschnitte
Die österreichische Westbahn ist kein Alles-oder-Nichts-Projekt wie Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Die großen Gefahren und Risiken, die mit Alles-oder-Nichts-Projekten verbunden sind, werden bei der Westbahn vermieden. 

Das dritte und vierte Gleis im Verlauf der Westbahn ist teilweise neben den beiden vorhandenen Gleisen verlegt. Teilweise verläuft das dritte und vierte Gleis auf einer separaten Trasse. Im Abstand von zwanzig bis dreißig Kilometern sind die alte Trasse und die neue Trasse miteinander verknüpft. Damit ist es möglich, einzelne Abschnitte der ausgebauten Westbahn in Betrieb zu nehmen, die einen eigenständigen verkehrlichen Wert aufweisen. Damit ist es auch möglich, erste Abschnitte wesentlich früher in Betrieb zu nehmen als dies bei einem Alles-oder-Nichts-Projekt möglich ist, wo ja nur die gesamte Strecke in einem Zug in Betrieb zu nehmen ist. Und es ist mit der Aufteilung in Etappen möglich, die dringendsten und wichtigsten Ausbaumaßnahmen als erstes anzupacken.

----> Übertragung auf den Bahnkorridor Stuttgart-Ulm-Augsburg:
Anstatt ein Alles-oder-Nichts-Projekt mit einem Inbetriebnahmetermin am St. Nimmerleinstag zu bauen, werden die größten Engpässe und Probleme des Bahnkorridors als erstes unter die Lupe genommen.

Das größte Problem des Bahnkorridors Stuttgart-Augsburg ist die Geislinger Steige mit ihrer Steigung von 22,5 Promille. Mit dieser Steigung ist der Bahnkorridor nicht vollumfänglich für den schweren Güterzugverkehr geeignet. Güterzüge der Privatbahnen meiden diese Strecke weitgehend. Der gesamte Güterzugverkehr ist im Verlauf der letzten Jahre zurückgegangen. Eine erwünschte Zunahme des Güterzugverkehrs und eine Verlagerung von Gütern von der Straße auf die Schiene kann nur mit einer Entschärfung der Geislinger Steige durch einen 10 Kilometer langen Umfahrungstunnel mit einer Steigung von 10 Promille erreicht werden. Von diesem Tunnel profitiert auch der Personenverkehr.

Das zweitgrößte Problem des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm-Augsburg ist der Abschnitt Plochingen-Göppingen. Der nur zweigleisige Abschnitt ist hoch belastet, die Güterzüge fahren mitten durch die Orte, die Einrichtung eines richtigen S-Bahnverkehrs ist nicht möglich. Deshalb wird als weitere prioritäre Maßnahme im Bereich zwischen Plochingen und Göppingen das dritte und vierte Gleis in der Form von Ortsumfahrungen mit jeweils einem kurzen Tunnel eingerichtet.

2. Ausbau der Bahnhöfe in Wien, St. Pölten und Linz
Die großen Hauptbahnhöfe mit ihren Zulaufstrecken im Verlauf der Westbahn werden ausgebaut mit den Zielen, bessere Bedingungen für die Fahrgäste zu schaffen und die Leistungsfähigkeit zu erhöhen.

In Wien wurde der Westbahnhof mit 11 Gleisen von 2008 bis 2011 grundlegend modernisiert. Zusätzlich gibt es in Wien ab 2012 / 2015 den neuen Hauptbahnhof mit 12 Gleisen als weitere Kapazitätssteigerung für die Westbahn.

In St. Pölten wurde der Bahnhof von 2006 bis 2011 generalsaniert. Im Jahr 2012 wurde die Zahl der Zulaufgleise zum Bahnhof erhöht.

In Linz wurde der Bahnhof von 2000 bis 2005 generalsaniert und auf 13 Gleise erweitert. Die Zulaufstrecken von Osten werden von 2010 bis 2018 modernisiert und von 8 auf 10 Gleise erweitert. Die Zulaufstrecken von Westen werden ca. ab 2015 saniert und erweitert.

----> Übertragung auf den Bahnkorridor Stuttgart-Ulm-Augsburg:
Die Hauptbahnhöfe von Stuttgart und Ulm müssen modernisiert und erweitert werden. Ein Rückbau wie beim Projekt Stuttgart 21 darf es keinesfalls geben. In Stuttgart müssen die 17 Gleise des Kopfbahnhofs erhalten bleiben. Die Bahnsteige müssen modernisiert werden. Die Zulaufstrecke von Zuffenhausen muss saniert, modernisiert und um zwei Gleise erweitert werden. Das gilt genauso für die Zulaufstrecke von Bad Cannstatt. In Ulm muss der Bahnhof ebenfalls modernisiert und um zwei Bahnsteiggleise erweitert werden. Im Rahmen des viergleisigen Ausbaus des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm-Augsburg werden die Zulaufstrecken nach Ulm von Stuttgart und von Augsburg jeweils um zwei Gleise erweitert.
  
3. Die Neubaustrecke mit ihren Tunnels ist auch und gerade für Güterzüge da
Die beiden zusätzlichen Gleise für die Westbahn werden im Verlauf einiger Abschnitte zusammen mit den beiden bestehenden Gleisen geführt. Im Verlauf anderer Abschnitte werden die beiden neuen Gleise vollständig neu trassiert. Im Verlauf dieser Neubaustrecken gibt es mehrere, teilweise sogar recht lange Tunnel.

Es bestand von vornherein Einigkeit zwischen allen Beteiligten, dass die Neubaustrecken mit ihren Tunnels außer für die Fernzüge auch und gerade für die Güterzüge da sein sollen. Mit Hilfe der Neubaustrecken mit ihren Tunnels wird es möglich, die Anwohner der Bahnstrecke vom lauten Güterzugverkehrslärm zu entlasten.

Mit Stolz haben die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) gerade verkündet, dass im Jahr 2013 bereits drei von fünf nachts verkehrenden Güterzügen die Neubaustrecke zwischen St. Pölten und Wien benutzen werden und damit die Anwohner der alten Strecke maßgeblich vom Verkehrslärm entlasten werden. Im Jahr 2014 werden bereits vier von fünf Güterzügen über die Neubaustrecke fahren. (Der Grund, weshalb nicht ab sofort alle Güterzüge nachts über die Neubaustrecke fahren, liegt darin, dass noch nicht alle Güterzugloks mit dem ETCS-Sicherungssystem ausgerüstet sind.)

----> Übertragung auf den Bahnkorridor Stuttgart-Ulm-Augsburg:
Eine Neubaustrecke mit teuren, langen Tunnels nutzt nichts, wenn sie nicht auch von Güterzügen befahren werden kann. Die NBS Wendlingen-Ulm weist Steigungen von bis zu 35 Promille auf. Damit ist sie für den Güterzugverkehr nicht geeignet.

Der Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm-Augsburg muss sich daran orientieren, dass die neu zu bauenden Abschnitte auch von den Güterzügen befahren werden können. Tunnels sind keineswegs tabu. Wenn aber teure Tunnels gebaut werden, dann müssen diese auch und gerade dazu dienen, den Güterzugverkehr aus den Ortschaften herauszunehmen und die Menschen vom Lärm zu entlasten.

Damit ist der einzuschlagende Weg für den Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm-Augsburg klar. Das dritte und vierte Gleis muss in der Form von Ortsumgehungen mit jeweils einem kurzen oder längeren Tunnel eingerichtet werden. Außerhalb der bebauten Bereiche kann das dritte und vierte Gleis zusammen mit den beiden bestehenden Gleisen verlegt werden. Die Steigung aller Neubauabschnitte darf 10 Promille nicht übersteigen.       

4. Nicht so schnell wie möglich, sondern so rasch wie nötig
Die Geschwindigkeit der Fernzüge im Verlauf der Westbahn wird keinesfalls durchgehend 250 oder gar 300 km/h betragen. Je nach Abschnitt beträgt die Geschwindigkeit der IC-Züge zwischen 200 und 250 km/h bzw. es wird diese Geschwindigkeit im Rahmen der noch laufenden Ausbaumaßnahmen angestrebt.

Diese angepasste Wahl der Geschwindigkeit erlaubt es, die Trassierung der Westbahn anwohner- und umweltfreundlicher durchzuführen. Zudem wird es dadurch möglich, den Mischbetrieb von Personen- und Güterzügen leistungsfähiger zu gestalten. Denn die Leistungsfähigkeit einer Strecke sinkt umso mehr, je größer die Geschwindigkeitsunterschiede zwischen den einzelnen Zuggattungen sind. 

Und mit den wenigen Minuten zusätzlichen Fahrzeitgewinns, den ggf. eine Geschwindigkeit von durchgehend 250 oder 300 km/h bringen würde, würde man keinen einzigen Fahrgast zusätzlich auf die Bahn locken.

----> Übertragung auf den Bahnkorridor Stuttgart-Ulm-Augsburg:
Es ist in keinster Weise erforderlich, im Verlauf der gesamten Bahnstrecke eine Geschwindigkeit von 250 km/h vorzuhalten. Die Trassierung vor allem im Verlauf des dichtbesiedelten Filstals wird erleichtert, wenn auf Abschnitten der Strecke "nur" 200 oder 220 km/h gefahren werden können. Wichtiger als wenige Minuten zusätzlichen Fahrzeitgewinns sind für die Fahrgäste des Fernverkehrs gute Anschlüsse in den Knoten Stuttgart und Ulm.    


5. Güterzugumfahrung St. Pölten
Während alle Fern- und Regionalzüge im Hauptbahnhof der niederösterreichischen Landeshauptstadt anhalten, fährt der Großteil der Güterzüge in St. Pölten durch. Diese Betriebssituation führte zur Planung einer Güterzugumfahrung für St. Pölten.

Diese neue zweigleisige Strecke wird nur vom Güterzugverkehr befahren werden. Deshalb ist die Trassierungsgeschwindigkeit der Strecke auf 120 km/h begrenzt. Durch die neue, 24,7 Kilometer lange und im Jahr 2017 zu eröffnende Güterzugumfahrung St. Pölten wird die durch St. Pölten durchführende Strecke fast nur noch dem Personenverkehr vorbehalten sein. Damit wird die Kapazität für den Personenverkehr gesteigert. Zudem wird die Bevölkerung von St. Pölten entscheidend vom Güterzuglärm entlastet werden. 

----> Übertragung auf den Bahnkorridor Stuttgart-Ulm-Augsburg:
Die Situation in Ulm und Neu-Ulm ist ähnlich wie in St. Pölten. Von daher liegt es nahe, eine Güterzugumfahrung für Ulm und Neu-Ulm zu planen. Aus Richtung Stuttgart kommend beginnt diese neue Umfahrung unmittelbar nördlich der A8 beim neuen Containerterminal. Die Strecke verläuft dann entlang der A8, steigt in einem ca. zwei Kilometer langen Tunnel ins Donautal ab, unterquert die Bahnlinie Ulm-Aalen zwischen Thalfingen und Oberelchingen, überquert die Donau, verläuft neben der bayerischen Staatsstraße 2021 und mündet bei Nersingen  wieder in die Bestandsstrecke.

Die neue Güterzugumfahrung Ulm/Neu-Ulm wird die Bahnhöfe von Ulm und Neu-Ulm für den Personenverkehr leistungsfähiger machen. Zudem wird sie die Bevölkerung von Ulm und Neu-Ulm vom Güterzuglärm entlasten, ohne dass es im Verlauf der Umfahrung zu neuen Belastungen kommt. Die Streckenlänge des Güterzugverkehrs wird durch die Umfahrung um sage und schreibe 14 Kilometer verkürzt.   

Fazit
Je näher man sich mit dem Ausbau der österreichischen Westbahn befasst, desto merkwürdiger, exotischer, dümmer und unpassender erscheinen die Projekte Stuttgart 21 und NBS Wendlingen-Ulm zu sein. Der Stopp des Projekts Stuttgart 21 ist in keinster Weise eine Blamage für Stuttgart, seine Region, Baden-Württemberg und Deutschland. Das Gegenteil ist der Fall. Das Festhalten an so einem exotischen Bahnrückbauprojekt wie Stuttgart 21 würde Stuttgart und seine Region zum Bahn-Außenseiter in ganz Europa machen. Niemand in Europa wird es den zuständigen Politikern hingegen verübeln, wenn sie sich für den Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm-Augsburg an bewährten Vorbildern in Europa orientieren.         

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