Sonntag, 1. Dezember 2013

Mit der Express-S-Bahn aus der Stuttgart 21-Sackgasse, Teil 5


Dutzende, ja möglicherweise hunderte von Bahnknotenpunkten in Europa werden in Etappen ausgebaut. Nur der Bahnknoten Stuttgart soll, wenn es nach dem Willen der Mehrheit der Politiker geht, eine Außenseiterrolle beim Bahnausbau spielen. Mit dem Alles-oder-Nichts-Projekt Stuttgart 21, das ja nicht einmal eindeutig das Merkmal eines Bahnausbauprojekts hat, steht Stuttgart jedenfalls in Europa alleine da.

Dass es auch anders gehen kann, dass auch und gerade der etappierbare Ausbau des Bahnknotens Stuttgart und der Stuttgarter S-Bahn ungeahnte Perspektiven für die Stadt, für die Region, für BW und für das Verkehrsmittel Eisenbahn hat, wollen wir in dieser kleinen Reihe in diesem Blog zeigen.

In den ersten drei Posts der kleinen Reihe war eine erste Ausbaustufe des Bahnknotens Stuttgart und der Stuttgarter S-Bahn mit Zeithorizont 2019 das Thema. Im vierten Post der Reihe ging es um das Anforderungsprofil für eine zweite Ausbaustufe des Bahnknotens Stuttgart mit Zeithorizont 2030. Im heutigen Post wollen wir eine Ausbaulösung für die zweite Ausbaustufe präsentieren, die passgenau auf das Anforderungsprofil eingeht. Im folgenden Post, dem sechsten Post der kleinen Reihe, soll es dann um bauliche Aspekte der zweiten Ausbaustufe gehen. Die betrieblichen Aspekte sind dann im siebten Post an der Reihe. Und im achten Post soll an Hand eines Vergleichs gezeigt werden, dass die hier präsentierte Ausbaulösung wesentlich besser ist als die von Heiner Geißler und SMA vorgeschlagene Kombilösung.


Ganz ohne Tunnel geht es nicht
Die Auffassung, dass der Ausbau des Bahnknotens Stuttgart ganz ohne den Bau zusätzlicher Tunnels vonstatten gehen kann, ist eine Illusion. Tunnels gehören in einem gewissen Maß zur Identität Stuttgarts. Bisher konnte in Stuttgart noch keine größere Ausbaumaßnahme für den Verkehr realisiert werden, ohne dass Tunnels eine Rolle gespielt haben.

Der im Jahr 1896 eröffnete Schwabtunnel war bei seiner Inbetriebnahme der breiteste Tunnel Europas sowie der zweite innerstädtische Straßentunnel Europas. Durch diesen Straßentunnel fuhr ab 1902 auch eine Straßenbahn, die weltweit erste durch einen Tunnel. Als der Wagenburgtunnel im Jahr 1958 eröffnet wurde, war es der längste Straßentunnel Deutschlands. Der B14-Tunnel der Umfahrung von S-Heslach ist der verkehrsreichste zweispurige Straßentunnel Deutschlands. Die Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn hat den längsten Tunnel aller S-Bahn-Stammstrecken in Deutschland. Und der Stuttgarter Hauptbahnhof (Kopfbahnhof) ist auf der Schiene nur durch mindestens einen Tunnel erreichbar - egal aus welcher Richtung man kommt.

Von daher darf man erwarten, dass auch die zweite Ausbaustufe des Bahnknotens Stuttgart mit Zeithorizont 2030 einen Tunnel benötigt. Man darf jedoch auch erwarten, dass für diese zweite Ausbaustufe bei weitem nicht so viele Tunnels benötigt werden wie beim Projekt Stuttgart 21, sowie dass die Tunnels einfacher und mit weniger Nebenwirkungen hergestellt werden können als bei Stuttgart 21. 

Das Anforderungsprofil für die zweite Ausbaustufe des Bahnknotens Stuttgart
Sehen wir uns noch einmal die Kurzfassung des Anforderungsprofils für die zweite Ausbaustufe des Bahnknotens Stuttgart und der Stuttgarter S-Bahn aus dem vorangegangenen Post in diesem Blog an.
  • Für den ab 2019 voraussichtlich ausgelasteten Kopfbahnhof muss eine Erweiterung/Entlastung gefunden werden. Der Hauptbahnhof soll 50 vertaktete Züge pro Stunde in guter Betriebsqualität abfertigen können.
  • Die ebenfalls ausgelastete bzw. überlastete Zufahrt Zuffenhausen muss erweitert/entlastet werden.
  • Die S-Bahn muss weiter ausgebaut werden. Die Stammstrecke der S-Bahn muss weiter entlastet werden, am besten durch eine Art zweiter Stammstrecke, die jedoch nur einen Bruchteil der Kosten vom Projekt der zweiten Stammstrecke der Münchner S-Bahn aufweisen darf.
  • Beim Fernverkehr müssen Verbesserungen wirksam werden. Vier Fernzüge pro halbe Stunde werden in Stuttgart gemäß dem S21-Betriebsprogramm durchgebunden. Für diese Züge sollte eine rasche Durchfahrtmöglichkeit ohne erforderlichen Richtungswechsel geschaffen werden.
  • Der Stuttgarter Hauptbahnhof muss genügend Gleise vorhalten, damit sich dort im Rahmen eines integralen Taktfahrplans die Regional- und Fernzüge gleichzeitig aufhalten können. 
  • Das Gleisvorfeld des Kopfbahnhofs soll verkleinert und vereinfacht werden.
Wir sehen uns weiter unten dann gleich an, inwieweit der Ausbauvorschlag für die zweite Ausbaustufe diese Anforderungen erfüllt.

Ausbauvorschlag: Durchmesserlinie nach dem Zürcher Vorbild
Hiermit wird vorgeschlagen, dass im Rahmen der zweiten Ausbauetappe des Bahnknotens Stuttgart und der Stuttgarter S-Bahn eine Durchmesserlinie nach dem Vorbild der in Zürich im Jahr 2014 mit einer ersten Stufe in Betrieb gehenden Durchmesserlinie geschaffen wird.

Dies sind die wesentlichen Kenndaten der Stuttgarter Durchmesserlinie:
  • Ein viergleisiger Durchmesserbahnhof wird neben dem Kopfbahnhof mit einem Winkel von 30 Grad zur Gleisachse des Kopfbahnhofs gebaut.
  • Der Durchmesserbahnhof befindet sich unter dem Karoline-Kaulla-Weg sowie unter einem Teil des bestehenden LBBW-Gebäudes. Dieser Teil des LBBW-Gebäudes muss abgerissen werden. Nach Fertigstellung des Durchmesserbahnhofs kann der Gebäudeteil neu gebaut werden. Nach dem Vorbild der neueren U-Haltestellen bei der Stuttgarter Stadtbahn wird der Durchmesserbahnhof zum Teil nach oben offen sein.
  • In Richtung Nordosten wird der Durchmesserbahnhof über eine Tunnelrampe an das Gleisvorfeld und an die Strecke nach Bad Cannstatt angebunden.
  • In der anderen Richtung wird der Durchmesserbahnhof auf kürzestmöglichem Weg über Tunnels an bestehende Bahnstrecken angebunden.
  • Die erste Anbindung erfolgt an die Zufahrt Zuffenhausen mit Anbindungspunkt nördlich des Bahnhofs Feuerbach. Hierzu wird ein Tunnel im großen Bogen unter der Kriegsbergstraße, unter der Hegelstraße, unter dem Kräherwald, unter der Feuerbacher Heide, unter der Grünen Fuge und unter dem Killesberg gebaut.
  • Die zweite Anbindung erfolgt an die Württembergische Schwarzwaldbahn in Richtung Leonberg-Calw. Hierzu wird eine Tunnelabzweigung vom gerade genannten Tunnel gebaut. Diese Abzweigung verläuft unterirdisch bis unmittelbar zur B295-Umfahrung Weilimdorf (dort, wo die B295-Umfahrung in den Wald eintritt). Ab diesem Punkt wird die Strecke oberirdisch unmittelbar neben der B 295-Umfahrung Weilimdorf bis Ditzingen weitergeführt. Dort mündet die Strecke in die bestehende S-Bahnstrecke ein.
  • Es gibt eine Option für eine dritte Anbindung an die Durchmesserlinie, indem die Gäubahn vom Westbahnhof unter dem Botnanger Sattel und unter dem Kräherwald hinduch geführt wird und ebenfalls in den Tunnel der Durchmesserlinie einmündet. Dieser zweite Zweigtunnel hat dieselbe Steigung wie der Hasenbergtunnel der S-Bahn (40 Promille).Regionalzüge und Fernzüge der Gäubahn könnten diesen Tunnel somit auf keinen Fall nutzen und müssen stets über die vorhandene Gäubahnstrecke zum Hauptbahnhof fahren.
  • Nur der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass die Durchmesserlinie eine weitere Option beinhaltet, die aus der direkten Anbindung der Schnellfahrstrecke von Mannheim an die Durchmesserlinie besteht (vom Langen Feld entlang der A81 und östlich an Weilimdorf vorbei). 
  • Die Durchmesserlinie als wesentlicher Bestandteil der zweiten Ausbauetappe des Bahnknotens Stuttgart geht dreistufig in Betrieb: In der Stufe 2a wird der viergleisige Durchmesserbahnhof zunächst als Kopfbahnhof betrieben und als Ergänzung des bestehenden Kopfbahnhofs genutzt. In der Stufe 2b erfolgt die Durchbindung nach Feuerbach und damit die Führung des durchgebundenen Fernverkehrs sowie zweier Express-S-Bahnlinien durch den Durchmesserbahnhof. Die Stufe 2c beinhaltet die Anbindung der Württembergischen Schwarzwaldbahn und damit die Führung einer dritten Express-S-Bahnlinie über den Durchmesserbahnhof. Zieht man die Option der Gäubahnanbindung, schließt sich eine Stufe 2d an, mit der die von der ersten Ausbaustufe des Bahnknotens Stuttgart bereits bekannte Express-S-Bahn S7/S70 an den Durchmesserbahnhof angebunden wird. 
Betrachten wir nun, inwieweit eine Durchmesserlinie nach dem Zürcher Vorbild das Anforderungsprofil für die zweite Ausbauetappe des Bahnknotens Stuttgart erfüllt.  
               
1. Entlastung des Kopfbahnhofs/ 50 vertaktete Züge pro Stunde im Hauptbahnhof
Nach dem im übernächsten Post in diesem Blog zu diskutierenden Betriebsprogramm wird die neue Durchmesserlinie 20 Züge pro Stunde abfertigen (ohne die Stufe 2d). Dies teilt sich auf in 8 Fernzüge und 12 Züge der Express-S-Bahn. Damit verbleiben für den Kopfbahnhof 30 Züge pro Stunde, die dieser in guter Betriebsqualität bewältigen kann.


2. Erweiterung/Entlastung der Zufahrt Zuffenhausen
Die neue Durchmesserlinie bringt für die Zufahrt Zuffenhausen das fünfte und sechste Gleis. Im Bereich zwischen der Einmündung der Durchmesserlinie in die Bestandsstrecke beim Feuerbacher Bahnhof und der Verzweigung Richtung Ludwigsburg-Vaihingen/Enz nördlich von Zuffenhausen wird das fünfte und sechste Gleis auf dem bestehenden Bahngelände hinzugebaut.

3. Ausbau der S-Bahn / Entlastung der S-Bahn-Stammstrecke
Wie das Zürcher Vorbild, so ist auch die Stuttgarter Durchmesserlinie eine Art zweite Stammstrecke für die S-Bahn. Mit Ausnahme der Zufahrt von Vaihingen (solange die Option der Gäubahnanbindung nicht eingelöst ist) ist es aus allen Streckenästen der S-Bahn möglich, in die Durchmesserlinie einzufahren. Damit kann ein System aus Express-S-Bahnen eingesetzt werden, das auf den einzelnen Strecken die herkömmlichen S-Bahnen entlastet und die Regionalzugverbindungen ergänzt. Besonders wichtig ist die Entlastung der Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn. Neben diesem Entlastungseffekt werden völlig neue Direktverbindungen geschaffen. So gibt es zum Beispiel zum ersten Mal in der Geschichte der Eisenbahn eine schnelle und direkte Verbindung ohne Umsteigen zwischen der zweitgrößten (Esslingen) und der drittgrößten Stadt (Ludwigsburg) der Region Stuttgart. (Gemäß den Angaben in der wikipedia sind diese beiden Städte allerdings nahezu gleich groß mit jeweils 88.000 Einwohnern).


4. Verbesserungen beim Fernverkehr / Durchbindung ohne Fahrtrichtungswechsel
Mit Hilfe der Durchmesserlinie wird es möglich, zwei Fernzüge je Richtung und je halbe Stunde über die Durchmesserlinie zu führen. Pro Stunde sind dies somit acht Fernzüge. Diese Fernzüge nehmen im Durchmesserbahnhof am integralen Taktfahrplan mit seinen Rendezvous-Zeiten teil. Damit können alle im Betriebsprogramm von Stuttgart 21 in Stuttgart durchgebundenen Fernzüge über die Durchmesserlinie abgewickelt werden. Im Kopfbahnhof verbleiben die Fernzüge, die in Stuttgart beginnen und enden.

5. Gleiszahl im Hauptbahnhof / integraler Taktfahrplan
Nach der Inbetriebnahme der Durchmesserlinie verfügt der Stuttgarter Hauptbahnhof über 20 Gleise (4 Gleise im Durchmesserbahnhof, 16 Gleise im Kopfbahnhof, die Gleise des S-Bahnhaltepunkts Hauptbahnhof tief werden nicht mitgezählt). Diese Gleiszahl ist ausreichend, um einen vollen Taktknoten im Rahmen des integralen Taktfahrplans zu fahren.  

6. Verkleinerung und Vereinfachung des Gleisvorfelds der Kopfbahnhofs  
Die Durchmesserlinie nimmt zusammen mit dem bestehenden S-Bahnhaltepunkt Hauptbahnhof (tief) alle Züge auf, die in Stuttgart durchgebunden werden. Das heißt jedoch im Umkehrschluss, dass im Kopfbahnhof dann nur noch diejenigen Züge verbleiben, die nicht durchgebunden werden und die einen Punkt zu Punkt-Verkehr ab/bis Hauptbahnhof durchführen.

Das aber hat gravierende Auswirkungen auf die Gestaltungsmöglichkeiten beim Gleisvorfeld. Gemäß der unten abgebildeten Systemskizze kann damit auf einen Großteil der weit über 200 Weichen im Gleisvorfeld des Kopfbahnhofs verzichtet werden. Es kann auch auf die Überwerfungsbauwerke verzichtet werden ("Tunnelgebirge"). Das ist neben dem wirtschaftlichen Aspekt auch deshalb von Bedeutung, weil ca. ab 2030 eine Generalsanierung des Gleisvorfelds ansteht. In diesem Zusammenhang müsste man die Überwerfungsbauwerke und sonstigen Kunstbauten neu bauen. Das ist jedoch unter Betrieb nur sehr schwer möglich.

Die bedeutende Vereinfachung der Gleisstruktur im Gleisvorfeld des Kopfbahnhofs hat auch städtebauliche Auswirkungen. Das gesamte Gleisvorfeld kann damit kompakter gehalten werden. Auch die Höhenentwicklung kann reduziert werden. Damit passt sich das Gleisvorfeld zukünftig besser in die Stadtstruktur ein und es können noch mehr Flächen bebaut werden bzw. als Park ausgewiesen werden, als dies ohnehin bereits beim heute bestehenden Zustand schon möglich ist.


Tunnel
Für die Durchmesserlinie ist ein 1,35 Kilometer langer Tagebautunnel unter der Kriegsbergstraße und der Hegelstraße erforderlich. Dazu kommt ein 4,2 Kilometer langer bergmännischer Tunnel (Ausbaustufe 2b, Kräherwaldtunnel I) bis Feuerbach. Das ergibt in der Summe eine Tunnellänge von 5,55 Kilometer. Der Weinbergtunnel der Zürcher Durchmesserlinie ist zum Vergleich 4,8 Kilometer lang.

Bei der Zürcher Durchmesserlinie gibt es eine Verzweigung im Bereich des Gleisvorfelds des Hauptbahnhofs. Bei der Stuttgarter Durchmesserlinie gibt es zwei bzw. drei Verzweigungen,im Gegensatz zu Zürich jedoch nicht im Gleisvorfeld, sondern im Bereich des Durchmessertunnels. Die erste Verzweigung (Ausbaustufe 2c, Kräherwaldtunnel II) führt unter dem Feuerbacher Tal hindurch bis zur B295-Umfahrung Weilimdorf. Dafür ist ein weiterer 3,5 Kilomter langer Tunnel erforderlich. Damit haben wir eine Gesamttunnellänge von 9 Kilometern. 

Als Option gibt es noch eine weitere Verzweigung (Ausbaustufe 2d, Kräherwaldtunnel III). Dieser Tunnel führt zum Westbahnhof, wo die Strecke in die Gäubahn mündet. Der Voreinschnitt für das Tunnelportal ist dort bereits vorhanden, weil man bereits in den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts vom Westbahnhof aus einen ähnlichen Tunnel bauen wollte. Die Tunnellänge dieses Abschnitts ist 2,85 Kilometer. Bei Realisierung dieser Option ergibt sich eine Gesamttunnellänge von 11,85 Kilometer. Das sind immer noch signifikant weniger Tunnelkilometer als bei Stuttgart 21 mit seinen 30 Tunnelkilometern. Und Stuttgart 21 bringt lange nicht soviel Nutzen für die Eisenbahn wie die hier vorgestellte Durchmesserlinie.      

Ausblick
Im folgenden Post in diesem Blog befassen wir uns mit einigen baulichen Details der neuen Durchmesserlinie. Im übernächsten Post geht es um betriebliche Aspekte der Durchmesserlinie. Schließlich ziehen wir einen Vergleich zwischen dem Vorschlag einer Kombilösung, der von Heiner Geißler und SMA eingebracht wurde, und der Durchmesserlinie nach Zürcher Vorbild.         
           

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.