Mittwoch, 28. Dezember 2011

Verstößt der Abriss des Hauptbahnhof- Südflügels gegen die Granada-Konvention des Europarats?


Der geplante Abriss des Südflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs verstößt möglicherweise gegen das Übereinkommen zum Schutz des architektonischen Erbes (Granada-Konvention) des Europarats. Deutschland als Mitgliedsstaat des Europarats hat die Granada-Konvention am 03.10.1985 unterzeichnet und am 17.08.1987 ratifiziert. In Kraft getreten ist die Granada-Konvention in Deutschland am 01.12.1987.

Die Granada-Konvention des Europarats verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, das architektonische Erbe Europas zu erhalten, zu fördern und gegebenenfalls wiederherzustellen. Zum architektonischen Erbe zählen unter anderem alle Gebäude und Strukturen, die von geschichtlichem, archäologischem, künstlerischem, wissenschaftlichem, sozialem und technischem Interesse sind, einschließlich der Inneneinrichtungen. Die Unterzeichnerstaaten müssen alle gesetzlichen Maßnahmen treffen, das architektonische Erbe zu erhalten. Zudem müssen Mittel bereitgestellt werden, um das architektonische Erbe zu sanieren, zu erhalten und wiederherzustellen.

Der Stuttgarter Hauptbahnhof gehört zweifelsohne zu den Gebäuden, für die die Granada-Konvention Anwendung findet. Der Stuttgarter Hauptbahnhof als Ganzes einschließlich der beiden Seitenflügel ist ein "bahnbrechendes Werk der modernen Architektur" (Zitat aus dem Architekturführer Stuttgart) und zusammen mit dem Hauptbahnhof von Helsinki ein europaweit bedeutendes Beispiel für die Architektur von Verkehrsbauwerken nach dem Zeitalter des Historismus. Das Architekturerbe des Stuttgarter Hauptbahnhofs ist somit von geschichtlichem und von technischem Interesse im Sinne der Granada-Konvention.

Auf Stuttgart bezogen ist der Hauptbahnhof einschließlich der beiden Seitenflügel nicht minder bedeutsam. Der Stuttgarter Hauptbahnhof mit den beiden Seitenflügeln ist die wichtigste architektonische Landmarke im Stuttgarter Talkessel. Kein anderes Gebäude - erst recht nicht die in den letzten Jahrzehnten errichteten Gebäude - kann dem Stuttgarter Hauptbahnhof diesbezüglich das Wasser reichen. 

Ein Erhalt des Stuttgarter Hauptbahnhofs einschließlich der beiden Seitenflügel wird auch durch den Umstand erleichtert, dass es sich hier nicht um ein heute nutzloses historisches Bauwerk handelt. Vielmehr erfüllt der Hauptbahnhof die Aufgaben eines modernen Schienenverkehrsbauwerks in vorbildlicher Weise. Der Stuttgarter Hauptbahnhof ist trotz jahrzehntelanger Vernachlässigung der zweitpünktlichste Großstadtbahnhof Deutschlands. Dieser Bahnhof kann mehr Züge pro Stunde in optimaler Betriebsqualität abfertigen als der geplante Stuttgart 21 - Tiefbahnhof. Und der Stuttgarter Hauptbahnhof lässt sich in der Zukunft modulförmig erweitern, um einen noch besseren Bahnverkehr anbieten zu können - und dies ohne Beeinträchtigung seines architektonischen Erbes.

Für diejenigen, die den Nordfllügel des Hauptbahnhofs bereits abgerissen haben und die dasselbe mit dem Südflügel planen, hält die Granada-Konvention des Europarats noch eine weitere Botschaft bereit. In Artikel 9 der Konvention heißt es, dass die Unterzeichnerstaaten verpflichtet sind, Verstöße gegen die Konvention mit Nachdruck zu sanktionieren. Dazu gehört auch die Verpflichtung, neu errichtete Bauten wieder abzureisen und das ursprüngliche, geschützte Gebäude wieder zu errichten.



Der Stuttgarter Hauptbahnhof mit Empfangsgebäude (links) und Südflügel (Mitte): die bedeutendste architektonische Landmarke des Stuttgarter Talkessels und eines der bedeutendsten Architekturdenkmäler des Verkehrs in Europa.
   

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