Dienstag, 10. März 2020

Mit 35 Jahren Verspätung erreicht der Integrale Taktfahrplan den Bahnknoten Stuttgart

Das Geburtsjahr des Integralen Taktfahrplans war 1985. Damals wurde in der Schweiz dieses bahnbrechende neue Bahnbetriebskonzept erfunden und in der Folge den Ausbauplänen zum Schweizer Eisenbahnnetz zugrundegelegt.

Neun Jahre später wurden Ausbaupläne zum Bahnknoten Stuttgart präsentiert (= Stuttgart 21), die genau des Gegenteil des Integralen Taktfahrplans darstellten. Wie konnte es dazu kommen?

Den Taktfahrplan gab es in vielen Ländern Europas bereits viel früher. Der Integrale Taktfahrplan ist aber weit mehr als lediglich ein Taktfahrplan. Die Züge fahren beim Integralen Taktfahrplan nicht nur in einem festen, gleichbleibenden Takt. Die Züge begegnen sich dazu auch noch in bestimmten Knotenpunkten, wo dann ein Umsteigen aus und in alle Richtungen innerhalb ganz kurzer Zeit möglich ist.

Voraussetzung für den Integralen Taktfahrplan ist nicht nur der Ausbau der Bahnhöfe mit einer ausreichenden Zahl an Bahnsteigkanten und Zulaufgleisen. Nicht minder wichtig ist ein Ausbau der Strecken zwischen den Knotenpunkten, wobei dieser Ausbau nach der Devise erfolgt "nicht so schnell wie möglich, sondern so rasch wie nötig". Der Integrale Taktfahrplan gibt in der Tat die erforderliche Fahrzeit zwischen zwei Knotenpunkten vor. Diese Fahrzeit ist nicht mehr beliebig, sondern sie liegt einem festen Raster, nämlich der Taktzeit bzw. einem Vielfachen der Taktzeit minus der halben Aufenthaltszeit im Knoten A minus der halben Aufenthaltszeit im Knoten B.


Ich habe diese Anfänge des Integralen Taktfahrplans selber mitbekommen. 1983/1984 studierte ich an der ETH Zürich Verkehrswesen und Eisenbahnwesen. Mitte 1984 kam ich an die Universtität Stuttgart zurück, um das Studium abzuschließen. Im Jahr 1985 hielt ich den Semestervortrag, wobei das Thema selbst gewählt werden konnte. Ich wählte das damals vollkommen neue Thema des Integralen Taktfahrplans.

Im Raum saßen als Zuhörer auch einige der damals maßgebenden Größen, was den Einfluss auf die Eisenbahnpolitik und die Straßenverkehrspolitik betrifft. Was damals in der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion zum Integralen Taktfahrplan gesagt wurde, bleibt ein Geheimnis....

Die Schnellfahrstrecke Mannheim-Stuttgart soll jetzt geheilt werden
Im Jahr 1991 wurde dann die Schnellfahrstrecke Mannheim-Stuttgart eröffnet, die alles mögliche darstellte, aber jedenfalls keine Ausbaumaßnahme im Rahmen eines Integralen Taktfahrplans. Es gibt jetzt - Jahrzehnte später - Bestrebungen, diesen Mangel zu heilen. Es werden jetzt alle möglichen Maßnahmen durchgedacht, um die Fahrzeit im Verlauf der Schnellfahrstrecke unter die 30 Minuten zu bringen. Dazu gehören eine Erhöhung der Geschwindigkeit, eine schlankere Einführung in den Bahnhof Mannheim und eine neue Trasse in den Stuttgarter Hauptbahnhof unter Umgehung des Tunnels Langes Feld. Ich bin skeptisch, ob dies gelingen wird. 300 km/h wird man nicht fahren können, weil es im Streckenverlauf viele Tunnels ohne Richtungstrennung gibt.

Stuttgart 21 hätte nicht in dieser Form präsentiert werden können
Hätte der integrale Taktfahrplan Mitte der Neunziger Jahre in Deutschland bereits eine Rolle gespielt, hätte Heinz Dürr das Projekt Stuttgart 21 nicht in dieser Form präsentieren können. Heinz Dürr hat ja dieses Projekt nicht erfunden. Zumindest muss er sich vor der Präsentation des Projekts Rat eingeholt haben. Diejenigen, die ihm den Rat gaben, hielten anscheinend wenig vom Integralen Takfahrplan. Auch neun Jahre nach dessen Einführung in der Schweiz hat sich daran augenscheinlich nichts geändert.

Der Verwaltungsgerichtshof macht keine Verkehrspolitik
In einem Urteil vom 06.04.2006 zu einer Klage im Zusammenhang mit Stuttgart 21 hielt der 5. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg unter anderem fest: "3. Eisenbahninfrastrukturunternehmen sind nicht verpflichtet, bei der Änderung oder Errichtung neuer Eisenbahninfrastrukturanlagen zu gewährleisten, dass ein (voller) Integraler Taktfahrplan möglich bleibt bzw. ermöglicht wird."

Das aber ist nur auf den ersten Blick eine Niederlage für die Gegner von Stuttgart 21. Der Integrale Taktfahrplan ist nämlich eine Sache der Verkehrspolitik und nicht eine Sache der Gerichte. Es gibt kein Gesetz und keine Verordnung, die einen Integralen Taktfahrplan für Deutschland vorschreiben. Die Gerichte können aber nur insofern tätig werden, als sie prüfen, ob eine Angelegenheit sich im Einklang mit den bestehenden Gesetzen und Verordnungen befindet.

Jetzt kommt der Integrale Taktfahrplan in Deutschland doch mit voller Wucht
Über 30 Jahre später ist es jetzt aber doch so weit mit dem Integralen Taktfahrplan in Deutschland. Fast könnte man meinen, dass erst eine Zeitspanne von mindestens einer Generation ins Land ziehen musste, bis man sich trauen konnte, den Integralen Taktfahrplan in Deutschland zu thematisieren. Oder noch ein wenig deutlicher ausgedrückt: Die ablehnenden Kräfte des Integralen Taktfahrplans mussten erst sicher den Ruhestand erreicht haben.

Jetzt geht es auch in Deutschland mit voller Wucht los. Jetzt werden die für die Bahn verfügbaren Investitionsmittel massiv aufgestockt. Jetzt werden große Ausbauprogramme für wichtige Knoten (Frankfurt/Main, Hamburg, Köln) präsentiert. Jetzt wird über den Ausbau von Strecken nachgedacht.

Und was ist mit dem Bahnknoten Stuttgart? Hier deutet sich ein tragischer Verlauf an. Die neue Sache - der Integrale Taktfahrplan - ist bereits am Horizont sichtbar. Dabei ist in Stuttgart der Neubau des Bahnknotens gemäß einer Philosophie von Gestern längst noch nicht abgeschlossen. Die jetzt gerade beschlossene Aufnahme des Baus des fünften und sechsten Gleises der Zufahrt Zuffenhausen in den Bundesverkehrswegeplan und dessen Finanzierung durch den Bund öffnet jedoch auch eine Tür für einen Ausweg aus der Stuttgarter Bahnhofsmisere.

Jetzt gilt es, alle noch nicht begonnenen Teilvorhaben des Projekts Stuttgart 21 zu stornieren (z.B. Flughafenbahnhöfe, Führung der Gäubahn über den Flughafen) und statt dessen neue Investitionen, die mit dem Integralen Taktfahrplan kompatibel sind, in die Wege zu leiten. Dazu gehören das fünfte und sechste Gleis der Zufahrt Zuffenhausen sowie viele zusätzliche Bahnsteigkanten im Hauptbahnhof, die in Form eines ergänzenden Kopfbahnhofs angeordnet werden. Damit könnten Stuttgart sowie die Bahn im allerletzten Moment vielleicht doch noch die Kurve kriegen und der Sackgasse entweichen.    

 

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