Donnerstag, 3. Januar 2019

Ausbauschritt 2035 der Schweizer Eisenbahn versus Stuttgart 21

Am 31. Oktober 2018 hat die Regierung der Schweiz die Botschaft zum Ausbauschritt 2035 (AS 2035) des strategischen Entwicklungsprogramms Eisenbahninfrastruktur (STEP) an das Parlament der Schweiz gesandt. Das Parlament wird im Laufe des Jahres 2019 über die Botschaft beschließen.

Im heutigen Post in diesem Blog wollen wir einige Grundsätze des Ausbauschritts 2035 betrachten und den Ausbauschritt 2035 der Eisenbahninfrastruktur der Schweiz mit dem Projekt Stuttgart 21 vergleichen. Das Ergebnis des Vergleichs soll gleich vorangestellt werden: Bei Anwendung der Grundsätze hinter dem Ausbauschritt 2035 der Eisenbahninfrastruktur der Schweiz wäre eine Umsetzung des Projekts Stuttgart 21 nicht zulässig.

Der AS 2035 soll Investitionen von 11,9 Milliarden Franken umfassen. Der Realisierungshorizont geht bis zum Jahr 2035. Hauptanteil der geplanten Investitionen hat die Beseitigung von Engpässen. Mit den geplanten Investitionen sollen die für das Jahr 2030 zu erwartenden Engpässe bei der Eisenbahninfrastruktur beseitigt werden. Um der teilweise massiv zunehmenden Nachfrage gerecht zu werden, werden auf vielen Strecken zusätzliche Halb- und Viertelstundentakte eingerichtet. Auch für den Güterverkehr sollen mehr, bessere und schnellere Angebote bereitgestellt werden. Auch die Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit des Betriebs soll erhöht werden.

Die Mittel für den AS 2035 kommen aus dem Bahninfrastrukturfonds (BIF). Seit dem 01.01.2016 erfolgt der Ausbau des Schweizer Eisenbahnnetzes ausschließlich und auf Dauer über diesen Fonds. Es gibt bereits einen ersten Ausbauschritt für die Eisenbahninfrastruktur, der in der Umsetzung ist (AS 2025). Ein dritter Ausbauschritt (AS 2045) ist bereits in der Vorplanung.


Der Schwerpunkt des Ausbaus der Schweizer Eisenbahninfrastruktur liegt in der Steigerung der Kapazitäten
In der Botschaft an das Parlament spricht die Regierung der Schweiz von den massiven zu erwartenden Zuwächsen bei der Nachfrage nach Bahnverkehrsleistungen. Bis zum Jahr 2040 wird eine Zunahme der Nachfrage um 40 Prozent, beim öffentlichen Personenverkehr um 51 Prozent und entlang der Korridore Genferseebogen und Zürich-Winterthur sogar um 100 Prozent vorausgesagt. 

Deshalb bildet die Erweiterung der Kapazitäten in Form zusätzlicher Gleise und Bahnsteige sowie des Ersatzes von höhengleichen Gleiskreuzungen durch höhenfreie Lösungen den Schwerpunkt des AS 2035.

Die Erweiterung der Kapazitäten ist nicht der Schwerpunkt von Stuttgart 21
Beim Projekt Stuttgart 21 ist die Erhöhung der Kapazitäten als Reaktion auf eine mögliche Verdoppelung der Nachfrage bis zum Jahr 2040 nicht der Schwerpunkt. Es ist sogar noch schlimmer: Es gibt im Rahmen von Stuttgart 21 fast keine Kapazitätserweiterung gegenüber dem bestehenden Zustand.

Der achtgleisige Tiefbahnhof von Stuttgart 21 entsteht ja nicht zusätzlich zum 16gleisigen Kopfbahnhof, sondern an Stelle dieses Kopfbahnhofs, der stillgelegt werden soll. Die Zufahrt Zuffenhausen mit ihren nur zwei Gleisen für den Fern- und Regionalverkehr - eine der beiden Hauptzufahrten zum Bahnknoten Stuttgart - wird bei Stuttgart 21 nicht mit zusätzlichen Gleisen erweitert, sondern durch den ebenfalls nur zweigleisigen Feuerbacher Tunnel ersetzt. Und die Gäubahn verliert bei Stuttgart 21 ihre eigenständige Zulaufstrecke zum Hauptbahnhof und muss zukünftig in einem - wohl nicht fahrbaren - Mischbetrieb mit S-Bahnlinien und mit höhengleichen Gleiskreuzungen vorlieb nehmen.

Gerd Hickmann (Verkehrsministerium BW) sprach bei der Verabschiedung von SSB-Vorstand Arnold davon, dass mit Stuttgart 21 die Kapazität der Eisenbahn im Bahnknoten Stuttgart nur um 30 Prozent erhöht wird. Erforderlich seien aber 100 Prozent. Für die mindestens 8 Milliaden Euro, die für Stuttgart 21 aufgewendet werden müssen, hätte man mehr erwarten können.

Diese genannten 30 Prozent Leistungssteigerung bei Stuttgart 21 sind aber keineswegs sicher nachgewiesen. Die 30 Prozent entstehen nur dann, wenn man unterstellt, dass zukünftig die Verkehrsnachfrage außerhalb der Spitzenstunden stärker wächst als während der Spitzenstunden. Sie entstehen auch nur dann, wenn man annimmt, dass die Verkehrsnachfrage in der Zufahrt Zuffenhausen zukünftig weniger stark wächst als die Nachfrage im Verlauf der heutigen Zufahrt Bad Cannstatt. 

Nimmt man aber an, dass zukünftig auch während der Spitzenzeiten ein Verkehrszuwachs gewährleistet sein muss, sowie dass die Zufahrt Zuffenhausen auch weiterhin einen Anteil von 40 Prozent an der Zahl der Züge und an der Nachfrage nach Bahnverkehrsleistungen beim Bahnknoten Stuttgart innehat, dann bietet Stuttgart 21 keinen Leistungszuwachs um 30 Prozent, sondern um Null Prozent.

Weitere Tunnels und Kombibahnhöfe sind ein Bestandteil des Ausbaus der Schweizer Eisenbahn
Weitere Tunnels sowie die Anlage von Kombibahnhöfen sind im Rahmen der Engpassbeseitigung beim Schweizer Eisenbahnnetz keineswegs tabu. In den Verdichtungsräumen lassen sich zusätzliche Gleise eben oft nur noch dadurch herstellen, dass sie im Tunnel verlaufen. Auch der Ausbau der Bahnhöfe lässt sich teilweise nur noch dadurch bewerkstelligen, dass zusätzliche Bahnhofsteile im Tunnel dazukommen (Kombibahnhöfe).

So sieht der AS 2035 im Großraum Zürich den Bau des neuen Brüttener Tunnels zwischen Zürich Flughafen und Winterthur vor (neue Doppelspur) sowie den Bau des neuen Zimmerbergtunnels II zwischen Zürich und der Zentralschweiz (neue Doppelspur). 

Bereits im AS 2025 wird der Bahnhof Genf zu einem Kombibahnhof ausgebaut, indem zwei zusätzliche Bahnsteiggleise im Tunnel angelegt werden. Ebenfalls Bestandteil des AS 2025 ist der Bau eines viergleisigen Kopfbahnhofs für 60.000 Reisende pro Tag unter den Gleisen des Durchgangsbahnhofs der Bundeshauptstadt Bern. Im AS 2035 werden die Projektierungsarbeiten für den zukünftigen Kombibahnhof Luzern sowie die zukünftigen Kombibahnhöfe Basel SBB sowie Basel Badischer Bahnhof vorangetrieben.

Nicht einmal ein Kombibahnhof ist bis jetzt in Stuttgart geplant
Mit Verwunderung und teilweise auch ein wenig Verärgerung nimmt man zur Kenntnis, dass die Bahn und die Politik für Stuttgart bisher nicht einmal die Anlage eines Kombibahnhofs beim Stuttgarter Hauptbahnhof ins Auge fassen, obwohl die Notwendigkeit einer Anpassung des Projekts Stuttgart 21 an die geändertern Rahmenbedingungen offensichtlich ist.

Die Schweiz wird die Barrierefreiheit beim Bahnverkehr in absehbarer Zeit erreichen
Die Umsetzung der Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) erfordert einen barrierefreien Zugang zu den Fahrzeugen der Eisenbahn in der Schweiz. Für die Schweiz gibt es gute Chancen, dieses Ziel in absehbarer Zeit zu erreichen. Das liegt vor allem daran, dass die S-Bahn, die es auch in der Schweiz in vielen Agglomerationen gibt, nicht so vom übrigen Bahnverkehr getrennt ist wie das in Deutschland oft der Fall ist. Die S-Bahnfahrzeuge haben in der Schweiz dieselbe Einstiegshöhe wie die Fahrzeuge des Regional- und Fernverkehrs. Die S-Bahnfahrzeuge können deshalb problemlos und barrierefrei an den Bahnsteigen des Regional- und Fernverkehrs anhalten.

Die Barrierefreiheit für die S-Bahn in der Region Stuttgart ist schwierig zu erreichen
Die Fahrzeuge der S-Bahn in der Region Stuttgart haben eine andere Einstiegshöhe als die Fahrzeuge des Regional- und Fernverkehrs. Das wirkt sich negativ auf die Barrierefreiheit aus. An vielen Bahnhöfen mit Mischbetrieb können die Bahnsteighöhen nicht so gestaltet werden, dass sie die Barrierefreiheit für die S-Bahn gewährleisten. Dazu gehören so wichtige Bahnhöfe wie z.B. Ludwigsburg.

Die Verkürzung von Reisezeiten ist nicht vordringlich
Die Verkürzung von Fahr- und Reisezeiten ist im Rahmen des AS 2035 nicht vordringlich. Es wird in der Schweiz keine einzige neue Schnellfahrstrecke geplant. Die Botschaft der Regierung an das Parlament stellt sogar fest, dass die Verkürzung von Reisezeiten nicht vordringlich ist, da dies die weitere Zersiedelung der Schweiz begünstigen kann. Ziel ist also nicht, Mehrverkehre zu erzeugen, indem man den Menschen ermöglicht, immer weiter weg von der Arbeitsstelle zu wohnen. Ziel ist, immer mehr Menschen von der Straße auf die Bahn zu bringen.

Ist der geplante, 10 Kilometer lange Brüttener Tunnel zwischen Zürich Flughafen und Winterthur also ein Widerspruch zu diesem Ansinnen, die Fahrzeiten nicht zu verkürzen? Denn durch den Brüttener Tunnel wird die Fahrzeit zwischen Zürich und der Ostschweiz um einige Minuten verkürzt. Nein, der Widerspruch besteht nicht.

Die Fahrzeitgewinne aus dem Brüttener Tunnel werden dringend benötigt, um den integralen Taktfahrplan in der Ostschweiz vollumfänglich einführen zu können. Der Brüttener Tunnel ermöglicht es, die Fahrzeiten Zürich - Sankt Gallen, Zürich - Romanshorn und Zürich - Kreuzlingen (Konstanz) auf unter eine Stunde zu drücken. Damit wird es möglich, in den Bahnknoten Sankt Gallen, Romanshorn und Kreuzlingen (Konstanz) ein Rendezvous aller Züge jeweils zur vollen und zur halben Stunde einzurichten - eine Voraussetzung für die Entwicklung dieser Bahnknoten zu Vollknoten im Rahmen des integralen Taktfahrplans.

Der Bahnhof Merklingen ist der Sündenfall
Im Zusammenhang mit Stuttgart 21 fällt der geplante Bahnhof Merklingen an der NBS Wendlingen-Ulm auf. Dieser Bahnhof wird genau das bewirken, was in der Schweiz unter allen Umständen verhindert werden soll.

Bereits jetzt gibt es eine Tendenz, dass Menschen aus den Großräumen Ulm und Stuttgart ihren Wohnsitz auf die Laichinger Alb verlegen wollen, weil sie von dort über den Bahnhof Merklingen zukünftig schnell in Ulm oder Stuttgart sind. Der Zersiedelung der Albhochfläche wird also Tür und Tor geöffnet. Große interkommunale Gewerbegebiete, neue Straßen, Parkplätze, Lagerhallen usw. stehen bereits in den Startlöchern. Sie werden die Zersiedelung vorantreiben und aus der Laichinger Alb eine Art neues Ruhrgebiet machen. Dabei ist im Verlauf der Filstalachse zu beobachten, dass dort immer mehr Brachflächen durch die Aufgabe ehemaligen Industriegeländes entstehen.

Besonders pikant ist, dass der Bahnhof Merklingen unter einem Grünen Verkehrsminister federführend geplant worden ist. Am 7. Dezember 2018 hat Verkehrsminister Hermann die neue Grünbrücke "Imberg" zwischen Merklingen und Ulm, die sich über die sechsspurig ausgebaute Autobahn A 8 und über die NBS Wendlingen-Ulm erstreckt, eingeweiht. Diese Grünbrücke ist die erste eine ganzen Reihe von Grünbrücken, die unter Federführung des baden-württembergischen Verkehrsministeriums im Rahmen des Projekts Wiedervernetzung geplant worden sind. Die 3,4 Mio. Euro teure Grünbrücke Imberg soll den wichtigen Wanderkorridor für Wildtiere zwischen dem Südabfall der Schwäbischen Alb und der Ostalb wiederherstellen.

So löblich dieses Vorhaben der Grünbrücken auch ist - den Fehler des Bahnhofs Merklingen kann es nicht wiedergutmachen. 

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