Donnerstag, 30. November 2017

Kostenexplosionen sind ein integraler Bestandteil des Alles-oder-Nichts-Projekts Stuttgart 21

Stuttgart 21 ist ein Alles-oder-Nichts-Projekt. Es ist nicht etappierbar. Es kann nur als Ganzes in Betrieb genommen werden. Es ist zudem kaum veränderbar und nicht an sich verändernde Randbedingungen anpassbar.

Projekte wie Stuttgart 21 tragen Kostenexplosionen als integralen Bestandteil in sich. Die gestern bekanntgewordene erneute Kostenexplosion um über eine weitere Milliarde Euro ist deshalb keine Überraschung. Und sie wird auch nicht die letzte Kostenexplosion bleiben.

Das Risiko zu scheitern und als Bau- bzw. Funktionsruine stehen zu bleiben ist bei Alles-oder-Nichts-Projekten um ein Vielfaches höher als bei etappierbaren Verkehrsprojekten. Dasselbe gilt für das Risiko eines finanziellen Desasters. Dasselbe gilt für das Risiko, dass das Projekt bei einer Fertigstellung bereits hoffnungslos veraltet ist.

Dabei darf man gar nicht vom Plural "Alles-oder-Nichts-Projekte" reden. Man muss den Singular verwenden. Denn es gibt in Europa im Verkehrswesen kein anderes Projekt, das wie Stuttgart 21 ein Alles-oder-Nichts-Projekt ist. Alle Bahnprojekte, die Bahnknoten und Hauptbahnhöfe betreffen, sind in Europa etappierbare Ausbauprojekte.


Massiver Schaden durch das Alles-oder-Nichts-Projekt Stuttgart 21
Das Alles-oder-Nichts-Projekt Stuttgart 21 hat der Region Stuttgart bereits massiven Schaden zugefügt. Nehmen wir hierfür nur mal ein Beispiel, die Engstelle der Bahnstrecke zwischen Bad Cannstatt und dem Hauptbahnhof (Zufahrt Bad Cannstatt).

Bei der Inbetriebnahme des ersten Abschnitts der Stuttgarter S-Bahn im Jahr 1978 hat man zunächst darauf verzichtet, für die S-Bahn zwischen Bad Cannstatt und dem Hauptbahnhof zwei eigene Gleise zu bauen. Das war eine Sparmaßnahme, die sich in der Folge negativ auf den Bahnbetrieb (Leistungsfähigkeit sowie Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit) auswirkte.

In der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurden die Forderungen nach dem Bau eines fünften und sechsten Gleises für die Zufahrt Bad Cannstatt immer dringender. Diese Forderungen wurden keineswegs nur von Bürgern oder von Verbänden, sondern auch von offizieller Seite wie dem Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) vorgetragen.

Hätte es das Projekt Stuttgart 21 nicht gegeben, wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das fünfte und sechste Gleis für die Zufahrt Bad Cannstatt in der ersten Hälfte der Neunziger Jahre gebaut worden. Bekanntlich ist es dazu nicht gekommen. Wegen des im Hintergrund bereits lauernden Alles-oder-Nichts-Projekts Stuttgart 21 wurde der Bau des fünften und sechsten Gleises der Zufahrt Bad Cannstatt nicht realisiert.

Sofern die aktuellen Zeitpläne für Stuttgart 21 stimmen und nicht erneut nach hinten verschoben werden, wird die Zufahrt Bad Cannstatt nun frühestens Ende 2024 entlastet werden. Das wäre dann ein Zeitunterschied gegenüber der Variante ohne Stuttgart 21 von mindestens 30 Jahren bei den Kapazitätssteigerungen für die Zufahrt Bad Cannstatt.

30 Jahre! In Kosten-Nutzen-Untersuchungen wird für solche Maßnahmen wie das fünfte und sechste Gleis der Zufahrt Bad Cannstatt ein jährlicher volkswirtschaftlicher Nutzen angesetzt, der einen hohen zweistelligen Millionenbetrag umfasst. Umgekehrt kann man somit auch einen volkswirtschaftlichen Schaden ansetzen für jedes Jahr, in dem das fünfte und sechste Gleis der Zufahrt Bad Cannstatt nicht in Betrieb ist. Allein in Bezug auf das fünfte und sechste Gleis der Zufahrt Bad Cannstatt hat Stuttgart 21 somit bereits einen volkswirtschaftlichen Schaden von über einer Milliarde Euro verursacht. Und das ist nur einer von vielen Punkten.

Auch die Stuttgarter Stadtbahn ist betroffen
Schauen wir uns noch einen Einzigen von vielen anderen Punkten an, diesmal einen Punkt aus dem kommunalen Verkehrswesen.

Stuttgart 21 hat auch dem städtischen Stuttgarter Schienenverkehrssystem, genannt Stadtbahn, bereits massiv geschadet. Die Fokussierung aller Anstrengungen auf das Projekt Stuttgart 21 haben dazu geführt, dass die Stuttgarter Stadtbahn heute nicht gut dasteht.

Als Einziges unter den städtischen Schienenverkehrssystemen in den vergleichbaren Großstädten im deutschsprachigen Raum hat die Stuttgarter Stadtbahn nur zwei Stammstrecken. Damit ist der Kern des Netzes massiv unterdimensioniert. Das führt dazu, dass die beiden Stammstrecken überlastet sind, dass die Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit leidet sowie dass die Stadtbahn nicht die zusätzlichen Fahrgäste übernehmen kann, die sie z.B. wegen der Feinstaub- und Stickstoffoxidprobleme, aber auch als Folge des sich ändernden Mobilitätsverhaltens der Bevölkerung übernehmen muss.

Obwohl kaum 200 Kilometer von Stuttgart entfernt, scheint da z.B. München in einer ganz anderen Welt zu leben. In München ist bei der Politik und bei großen Teilen der Bevölkerung das Stammstreckenproblem absolut bekannt. Das führt dazu, dass dort eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn gebaut wird und dass zudem auch noch eine vierte Stammstrecke für die U-Bahn (neue Stammstrecke vom U-Bahnhof Implerstraße über den Hauptbahnhof bis zum U-Bahnhof Münchner Freiheit, Baubeschluss im Münchner Stadtrat voraussichtlich im Jahr 2018) gebaut wird. Und das obwohl München bereits drei Stammstrecken bei der U-Bahn und mindestens zwei weitere Stammstrecken beim Tram besitzt.

Wie kann es jetzt für Stuttgart weitergehen?
Landesverkehrsminister Winfried Hermann hat in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 30.11.2017 zwar Stuttgart 21 indirekt erneut scharf kritisiert. Die Pläne, das Projekt vollständig aufzugeben, hält er jedoch für naiv, auch vor dem Hintergrund, dass über 50 Prozent der Tunnel für Stuttgart 21 bereits gegraben sind.

Das ist m.E. grundsätzlich so richtig. Richtig ist aber auch, dass das Projekt Stuttgart 21 in der bisher geplanten Form nicht fertiggestellt werden sollte. Vielmehr sollte die Politik die Chance nutzen, Stuttgart 21 zur Kombilösung hin zu verändern. Das wäre in der Tat die eigentliche Aufgabe der Politik.

Das würde bedeuten, dass man sich auf die möglichst rasche Fertigstellung des Feuerbacher Tunnels, des Tiefbahnhofs und des Fildertunnels konzentriert. Der Cannstatter Tunnel und der Untertürkheimer Tunnel werden nicht weitergebaut. An der Autobahn A8 entsteht ein neuer Flughafenbahnhof. Neben dem achtgleisigen Tiefbahnhof bleibt ein ca. 10gleisiger Kopfbahnhof erhalten. Beim Dach des Tiefbahnhofs gibt es ebenfalls Änderungen. Auf die bisher geplante Dachkonstruktion wird weitgehend verzichtet. Statt dessen bleiben einige Teile des Tiefbahnhofs nach oben offen. Das ist gut für den Brandschutz. Die Gleise des Kopfbahnhofs werden direkt über den Gleisen des Tiefbahnofs gebaut.

Die Beibehaltung eines 10gleisigen Kopfbahnhofs mitsamt den jeweils zweigleisigen Zulaufstrecken der Gäubahn, von Zuffenhausen und von Bad Cannstatt bedeutet, dass nicht alle bisher geplanten Flächen für eine Neubebauung zur Verfügung stehen. Das ist jedoch verkraftbar. Die Öffentlichkeit realisiert ja gerade auch, dass als Folge der Terminverschiebungen bei Stuttgart 21 es mit einer Bebauung des Gleisvorfelds des heutigen Hauptbahnhofs vor ca. dem Jahr 2030 sowieso nichts wird. Auch die Pläne für eine Internationale Bauaustellung dürften Makulatur werden. Anstatt von einer Bauaustellung zu träumen sollte Stuttgart alle Anstrengungen darauf verwenden, aus seiner Außenseiterposition in Verkehrsdingen herauszukommen und eine normale Stadt zu werden.



     

 
 

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