Kommen wir zunächst zu den wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Leipziger Citytunnel und Stuttgart 21.
- Beide Projekte sind nicht Bestandteil des Bundesverkehrswegeplans.
- Die Bahn wollte bzw. will beide Projekte eigentlich nicht haben.
- Bei beiden Projekten musste/muss das betroffene Bundesland mit mehr oder weniger großen Zuschusszahlungen die Bahn zum Bau drängeln.
Der Freistaat Sachsen musste alle Kostenrisiken beim Leipziger Citytunnel tragen
In einer Finanzierungsvereinbarung vom März 2002 wurde die Finanzierung des Leipziger Citytunnels geregelt. Man ging damals von Gesamtkosten von 571,62 Mio. Euro aus. Diese Kosten wurde auf die einzelnen Projektpartner wie folgt aufgeteilt:
Bund: 191,73 Mio Euro
Freistaat Sachsen: 182,02 Mio Euro
Europäische Union: 168,73 Mio Euro (später reduziert auf 127,59 Mio Euro)
Bahn: 16,36 Mio Euro
Stadt Leipzig: 12,78 Mio Euro
Hierbei fällt der kleine Anteil auf, den die Bahn am Leipziger Citytunnel übernimmt. Dies ist eigentlich lediglich ein symbolischer Anteil. Von Seiten der Bahn ist dieses Verhalten konsequent. Die Bahn lässt sich bei Projekten, die sie selbst nicht will, grundsätzlich aushalten. Bei Projekten, die im Bundesverkehrswegeplan enthalten sind und die die Bahn bauen will, braucht sie sich ebenfalls keine großen finanziellen Sorgen zu machen. Denn alle - mit Regelmäßigkeit auftretenden - Kostensteigerungen werden bei diesen Projekten über den Bundeshaushalt bezahlt.
Wie sieht es jetzt mit der Übernahme von Kostensteigerungen beim Leipziger Citytunnel aus? Hier spricht der Finanzierungsvertrag eine eindeutige Sprache. Alle auftretenden Kostensteigerungen müssen vom Bundesland Sachsen übernommen werden. Sachsen übernimmt das gesamte Haftungsrisiko. Der Bund beteiligt sich nur im Rahmen der allgemeinen Lohn- und Preissteigerungsgrenze an den Mehrkosten. Die Bahn bezahlt keinen Cent der ggf. auftretenden Kostensteigerungen.
Nun sind die Kosten beim Leipziger Citytunnel bekanntlich zwischen dem Vertragsjahr 2002 und dem Inbetriebnahmejahr 2013 beträchtlich gestiegen, von 571 auf nunmehr ca. 960 Mio Euro. Fast der gesamte Differenzbetrag - somit ca. 350 Mio Euro - wird gemäß dem Vertrag vom Bundesland Sachsen übernommen. Sachsen musste somit fast dreimal mehr Gelder für den Leipziger Citytunnel aufbringen als urprünglich geplant. Der Anteil des Bundslandes Sachsen an den Kosten des Leipziger Citytunnels stieg somit von ursprünglich 32 Prozent auf letztendlich ca. 55 Prozent. Der Leipziger Citytunnel war also für das allenfalls mit durchschnittlicher Steuerkraft ausgestattete Bundesland Sachsen eine teure Angelegenheit.
Leipziger Citytunnel als Geschenk für die Bahn
Mit dem bisher Genannten gibt sich die Bahn aber noch nicht zufrieden. Obwohl die Bahn nur einen Bruchteil der Baukosten des Leipziger Citytunnels übernommen hat, wurde dieser Tunnel bei seiner Inbetriebnahme zu 100 Prozent an die Bahn übereignet. Die Bahn ist also der Besitzer eines Bauwerks geworden, das sie selbst fast gar nicht finanziert hat. Ein tolles Geschäft für die Bahn! Und ab jetzt lässt sich die Bahn ihr neues Eigentum versilbern.
Für jeden der im Durchschnitt alle fünf Minuten in jeder Richtung fahrenden S-Bahnzüge werden Trassen- und Stationspreise fällig. Diese Preise müssen wiederum vom Bundesland Sachsen über die Regionalisierungsmittel aufgebracht werden.
Gemäß der Stationspreisliste von 2014 werden die folgenden Stationspreise im Citytunnel fällig:
Bayerischer Bahnhof: 3,49 Euro/Zug
Wilhelm-Leuschner-Platz: 3,49 Euro/Zug
Markt: 3,49 Euro/Zug
Hauptbahnhof: 26,23 Euro/Zug (!)
Dazu kommen die Trassenpreise. Der Leipziger Citytunnel hat eine Länge von 3,6 Kilometern. Gemäß dem Trassenpreissystem von 2014 fällt die Strecke unter die Kategorie S1 (Stadtschnellverkehr). Dafür ist ein Grundpreis von 1,87 Euro pro Trassenkilometer fällig. Darauf ist ein Zuschlag für das sogenannte Trassenprodukt zu zahlen. Dieses Trassenprodukt ist beim Citytunnel eine sogenannte Personennahverkehrs-Takttrasse mit dem Beaufschlagungsfaktor von 1,65.
Damit muss jeder Zug, der durch den Leipziger Citytunnel fährt, den folgenden Trassen- und Stationspreis bezahlen:
(3,6 x 1,87 x 1,65 + 3,49 + 3,49 + 3,49 + 26,23) Euro = 47,80 Euro. Das ist ein beachtlicher Betrag, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Bahn für den Leipziger Citytunnel praktisch keine Tilgungs- und Zinszahlungen leisten muss und zunächst einmal auch keine großen Instandsetzungsinvestitionen anstehen. Man sieht also, die Bahn versteht es, Steuergelder der Länder abzuschöpfen, sowohl beim Bau einer ungeliebten Strecke als auch bei deren späterem Betrieb.
Bleibt die Bahn bei Stuttgart 21 auf allen Kostenrisiken sitzen?
Kommen wir nun aber wieder zurück zu Stuttgart 21. Die beiden wesentlichen Unterschiede zwischen dem Leipziger Citytunnel und Stuttgart 21 sind:
- Stuttgart 21 ist bei der finanziellen Größenordnung, bei der Komplexität, bei den Risiken und möglicherweise sogar bei der Bauzeit um den Faktor 6 bis 10 über dem Leipziger Citytunnel.
- Im Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21 fehlt ein Passus, der das Land Baden-Württemberg zu einer Übernahme aller auftretenden Mehrkosten verpflichtet.
Warum, so muss man sich jetzt fragen, fehlt im Finanzierungsvertrag von Stuttgart 21 ein Passus, der das Land und/oder die anderen Projektpartner außer der Bahn zur Übernahme aller auftretenden Mehrkosten verpflichtet? Das ist doch ganz und gar nicht im Sinne dessen, was die Bahn sonst so macht.
Eine Antwort auf diese Frage können wir hier in diesem Blog nicht zufriedenstellend geben. Sehen wir noch einmal den Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21 an. Im Passus, der bei einer Überschreitung der genannten Höchstsumme Gespräche zwischen den Projektbeteiligten vorsieht, gibt es noch einen kleinen Zusatz. Die Überschreitung der Höchstsumme der Kosten wird dort mit dem Zusatz "im unwahrscheinlichen Falle" versehen. Hat also die Bahn tatsächlich geglaubt, dass die Höchstsumme der Kosten nie und nimmer überschritten werden würde? Immerhin war bei der Unterzeichnung des Finanzierungsvertrags noch ein beträchtliches Finanzierungspolster in Form eines Risikovorsorgebetrags in Höhe von 1.450 Mio Euro, somit fast 50 Prozent der damals angenommenen Projektkosten, vorhanden.
Dann trat allerdings etwas ein, was möglicherweise bei der Vertragsunterzeichnung niemand geahnt hatte bzw. wahrhaben wollte. Der ursprünglich vorhandene gigantische Risikovorsorgebetrag bei der Finanzierung von Stuttgart 21 schrumpfte bereits vor dem Beginn der Bauarbeiten - also vor dem Zeitpunkt des Eintretens der eigentlichen Risiken - quasi auf Null.
Drexlers entlarvende Selbstsicherheit zu Stuttgart 21
Auch der frühere Projektsprecher von Stuttgart 21, der SPD-Politiker Drexler, äußerte sich mehrfach zu den Kosten von Stuttgart 21. Drexler war ja wohl derjenige, der die astronomisch hohen Ausstiegskosten aus Stuttgart 21 von über einer Milliarde Euro erfunden hat, indem er mit schwäbischer Schlauheit, aber unkorrekt, die Rückabwicklung des Grundstücksgeschäfts bei einem Stopp von Stuttgart 21 ignoriert hat. Derselbe Drexler äußerte sich zu den Kosten von Stuttgart 21 sinngemäß so, dass er nicht wüsste, woher eventuelle Mehrkosten bei Stuttgart 21 kommen sollten, die die vertraglich vereinbarte Höchstsumme überschreiten.
Das muss man sich mal vorstellen: Der Jurist Drexler, wahrlich kein ausgewiesener Verkehrsfachmann, Bahnfachmann, Baufachmann, behauptet einfach, dass er sich nicht vorstellen könne, dass die Kosten von Stuttgart 21 über die im Finanzierungsvertrag vereinbarte Höchstsumme ansteigen. Hat denn Drexler die Kostenkalkulationen nachgerechnet? Hat er sich näher mit dem Thema und mit der Entwicklung der Kosten bei anderen Projekten befasst? Hat er berücksichtigt, dass Stuttgart 21 kein Infrastrukturprojekt ist, sondern zunächst ein Grundstücksverwertungsprojekt war, das sich dann zu einem politischen Projekt entwickelt hat?
Die Selbstsicherheit, mit der Drexler seine Äußerungen zu den Kosten von Stuttgart 21 tätigte, das Fehlen jeglichen Zweifels, jeglichen Nachdenkens, das zuweilen laute, polternde Auftreten dieses zweitrangigen Politikers sagt jedenfalls weniger etwas über Stuttgart 21 als vielmehr etwas über Drexler selbst aus. Je weniger jemand von einem Thema etwas weiß, desto selbstsicherer gibt er sich. Je mehr man sich aber in ein Thema eingearbeitet hat, desto mehr Fragen tun sich auf, desto unsicherer werden selbst Experten, desto demütiger fallen ihre Statements aus.
Hat die Bahn selbst nie an eine Umsetzung von Stuttgart 21 geglaubt?
Jetzt sind wir aber der Frage, warum die Bahn beim Finanzierungsvertrag von Stuttgart 21 die Mehrkostenübernahme seitens des Landes Baden-Württemberg nicht eindeutig festgezurrt hat, keinen Schritt nähergekommen. Das wird uns hier auch nicht gelingen. Eigentlich kaum vorstellbar, dass die Bahn diesen Passus schlichtweg vergessen hat. Die Bahn muss eigentlich wissen, dass sich der Endpreis bei Großprojekten der öffentlichen Hand grundsätzlich verdoppelt. Bei Projekten von der Größe, der Komplexität, den Risiken und der Zeitdauer von Stuttgart 21 verdreifachen sich die Endkosten grundsätzlich. Eher noch könnte man den Gedanken formulieren, dass die Bahn selbst nie an eine Umsetzung von Stuttgart 21 geglaubt hat.
Möglicherweise hat der enorme Druck, unter dem der damalige baden-württembergische Ministerpräsdient Oettinger in der Zeit unmittelbar vor der Vertragsunterzeichnung stand, die Bahnspitze veranlasst, in einer Art "Nach mir die Sintflut-Mentalität" den Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21 zu unterzeichnen. Nach seiner unsäglichen Rede bei der Trauerfeier für den ehemaligen Ministerpräsidenten Filbinger musste Oettinger dringend einen vermeintlichen Erfolg vorweisen. Diesen Erfolg suchte er in Stuttgart 21. Bundeskanzlerin Merkel sah sich später dann trotzdem veranlasst, Oettinger nach Brüssel wegzuloben. Das geschah allerdings nicht, weil Oettinger ihr selbst irgendwann gefährlich zu werden drohte. Dafür war Oettinger zu unbedeutend und zu schwach. Merkel sah durch Oettinger schlichtweg den Erfolg der CDU in Gefahr.
Klarer als die Umstände der Unterzeichnung des Stuttgart 21-Vertrags sind jedoch die Folgen der fehlenden Übernahmeregelung der Mehrkosten seitens des Landes für das weitere Verhalten des Vertragspartners Bahn. Gemäß allen Regeln muss die Bahn aus Stuttgart 21 aussteigen, das Projekt also stoppen. Denn die Bahn hat noch nie bei einem Projekt, das sie selbst eigentlich nicht will und das nicht im Bundesverkehrswegeplan verankert ist, irgendwelche Kosten übernommen - und schon gar nicht Mehrkosten von 2 bis 6 Milliarden Euro, wie sich dies bei Stuttgart 21 abzeichnet.
Die Bahn versuchte bereits mehrfach, aus Stuttgart 21 auszusteigen
Und tatsächlich gab es ja in der Rückschau bereits einige Versuche der Bahn, aus Stuttgart 21 auszusteigen. Nach der Landtagswahl von 2011 in BW trat die Bahn mit dem Ansinnen des Stopps von Stuttgart 21 an die neue Landesregierung heran. Nur die Drohung der SPD, den Klageweg zu beschreiten, hielt die Bahn schließlich von einem Ausstieg ab. Nach dem Bekanntwerden der letzten Kostenexplosion bei Stuttgart 21 im Jahr 2013 wollte die Bahn ebenfalls aussteigen. Diesmal war es die Bundeskanzlerin Merkel und in deren Auftrag der damalige Kanzleramtsminister Pofalla, der den Aufsichtsrat der Bahn schließlich auf eine Ablehnung des Ausstiegs aus Stuttgart 21 festnagelte - trotz eindeutiger Zahlen und Fakten, die für den Ausstieg sprachen - und selbstverständlich weiterhin sprechen.
Halten wir aber noch einmal fest: Die Bahn will und muss aus Stuttgart 21 aussteigen. Niemals würde sich die Bahn ein unwirtschaftliches Projekt wie Stuttgart 21, das sie selbst nicht will und das für die Bahn unabsehbare finanzielle Risiken birgt, an den Hals binden. Bisher verhinderte die Politik den Ausstieg. Das aber bedeutet im Umkehrschluss, dass die Bahn aus Stuttgart 21 aussteigen wird, sobald sich auch nur eine kleine Änderung der politischen Randbedingungen ergibt. Das kann der neue Bundesverkehrsminister Dobrindt sein, der die ganze Sache vielleicht etwas pragmatischer sieht als sein Vorgänger Ramsauer. Das kann der eine oder andere neue Staatssekretär im Verkehrsministerium und im Finanzministerium sein, der sich nicht mehr so leicht von einem Kanzleramtsminister vom rechten Weg abbringen lässt. Das kann auch der neue Kanzleramtsminister Altmaier sein, der vielleicht auch Kanzlerin Merkel überzeugen kann, von Stuttgart 21 abzulassen.
Das Projekt Stuttgart 21 arbeitet auf seinen Stopp hin
Die Randbedingungen bei der Finanzierung von Stuttgart 21 sind jedenfalls so, dass das Projekt ständig auf seinen Stopp seitens der Bahn hinarbeitet. Das zeigt nicht zuletzt ein Vergleich der Finanzierungsvereinbarungen zum Leipziger Citytunnel und zu Stuttgart 21. Sobald die mühsam hochgezogenen Staumauern der Politik erste Risse bekommen, werden sich zunächst das Rinnsal und schließlich der Wasserfall des Stopps von Stuttgart 21 ihren Weg bahnen.
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