Sonntag, 18. August 2013

Ulmer Desinformationen zu Stuttgart 21

Vor dem Hauptbahnhof von Ulm befindet sich eine kleine Informationsbox zu den Projekten Stuttgart 21 und NBS Wendlingen-Ulm. Es lohnt sich kaum, in die Infobox hineinzugehen. Denn dort gibt es nur wenig zu sehen. Das Wenige ist zudem plumbe Propaganda. 

Jedoch können auch die Passanten, die lediglich vom Bahnhofsgebäude in Richtung Innenstadt gehen wollen, sich kaum der Werbung für Stuttgart 21 entziehen. Denn vor der Infobox wurden vier Stelen aufgestellt, die einige Schlagwörter zu Stuttgart 21 und zur NBS Wendlingen-Ulm plakatieren. Den Inhalt der vier Stelen sehen wir uns im Folgenden einmal näher an. Hierbei gelangen wir zu der Erkenntis, dass keine einzige der auf den Stelen aufgepinselten Behauptungen richtig ist.


1. Stele
"56 - 28 Minuten! In der halben Zeit nach Stuttgart. Macht rund eine Stunde Zeitersparnis für die Pendler - jeden Tag. Es lohnt sich also."
Nun haben wir ja im Post vom 04.10.2013 in diesem Blog gesehen, dass die Bahn die jahrelang propagierte Fahrzeit im Fernverkehr von 28 Minuten zwischen Stuttgart und Ulm jetzt einer ersten Korrektur unterzogen hat. Ab jetzt wird nicht mehr mit 28 Minuten, sondern mit 31 Minuten gerechnet.

Die 28 Minuten Fahrzeit wären ja für den integralen Taktfahrplan, der Fahrzeiten von der Hälfte der Taktzeit minus die Hälfte der Aufenthaltszeit in den beiden Bahnhöfen erfordert, durchaus in Ordnung gewesen. Mit den 31 Minuten Fahrzeit - und wahrscheinlich wird sich die Fahrzeit in den kommenden Jahren weiter erhöhen - ist eine Eckfahrzeit von 30 Minuten minus 2 Minuten jedoch nicht mehr leistbar. Jetzt bleibt nur noch, zur nächsthöheren Eckfahrzeit zu springen. Das sind 45 Minuten minus 2 Minuten = 43 Minuten. 

Eine Fahrzeit von 43 Minuten zwischen Stuttgart und Ulm lässt sich jedoch auch durch den wesentlich preiswerteren Ausbau des Bestandsstrecke erreichen. Und dieser Ausbau, an dem ja bereits in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts geplant wurde, wäre heute schon längst fertiggestellt, hätte man diese Planungen zu Ende geführt und hätte nicht Professor Heimerl die Schnapsidee der NBS Wendlingen-Ulm der Politik schmackhaft gemacht. 

Dann gilt es noch etwas zum Thema der Pendler zu sagen. Es ist durchaus nachvollziehbar und verständlich, dass es einzelne Pendler zwischen Stuttgart und Ulm und umgekehrt geben kann. Gründe dafür können zum Beispiel sein ein Umzug, eine familiäre Veränderung, Arbeitslosigkeit und die Zusage eines neuen Arbeitsplatzes usw. Aber eines muss klar sein: Der Normalfall darf das Pendeln zwischen Ulm und Stuttgart mit einer Entfernung von fast 100 Kilometern nicht sein. Das ist weder nachhaltig, noch zukunftstauglich, noch ist es auf Dauer bezahlbar. Das entspricht weder der Raumordnung, noch entspricht es irgend einem anzustrebenden Gesellschaftsmodell. 

Wenn auf dieser ersten Stele also so betont auf die Pendler zwischen Ulm und Stuttgart eingegangen wird, dann muss man sich fragen, wer damit eigentlich gemeint ist. Ein Witz wäre es, würde man die Zahl der Fernpendler zwischen Ulm und Stuttgart nur deshalb in der Zukunft steigern, um die NBS irgendwie auszulasten.

2. Stele
"In 24 Minuten Abflug. Heute brauchen Sie mit dem Zug 2 Stunden vom Hauptbahnhof Ulm bis zum Flughafen Stuttgart. Mit der Neubaustrecke sind Sie in weniger als einer halben Stunde beim Check-In."
Wo fangen wir an, dieses Lügengebäude abzutragen? 

Als erstes wäre die Fahrzeit zu nennen. Die Fahrzeit zwischen Ulm und dem Flughafen beträgt nach den neuesten Angaben der Bahn im Fernverkehr nicht mehr 24 Minuten, sondern 29 Minuten.

Als nächstes ist zu fragen: Wird es überhaupt Fernverkehr zwischen Ulm und dem Flughafen geben? Das ist keinesfalls sicher. Vielleicht würde es zunächst in den ersten Jahren nach der Eröffnung der NBS alle zwei Stunden einen ICE geben. Bis zu zwei Stunden zu warten ist allerdings nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig.

Es bleiben also die vom Land zu bestellenden und stündlich verkehrenden Regionlzüge zwischen Ulm und dem Flughafen. Die Regionalzüge benötigen jedoch eine Fahrzeit von ca. 40 Minuten. Und im vorangegangenen Post in diesem Blog haben wir ja gesehen, dass das Land gemäß dem Regionalisierungsgesetz eigentlich gar keine Regionalzüge zwischen Ulm und dem Flughafen bestellen darf. Denn dies ist eine 70 Kilometer lange Strecke ohne Zwischenbahnhof, ein Tabu für Regionalzüge.

Kommen wir als nächstes zum Flughafenbahnhof. Wenn man am Flughafenbahnhof ankommt, ist man eben gerade nicht beim Check-In. Zwischen der Ankunft im Flughafenbahnhof und dem Eintreffen beim Check-In vergehen mindestens 10 bis 15 Minuten. Man muss vom ca. 30 Meter tief gelegenen Flughafenbahnhof ja erst mal an die Oberfläche kommen. Dann muss man die weite Strecke zwischen dem Flughafenbahnhof und dem Terminal zurücklegen.

Schließlich muss man feststellen, dass zur Reisezeit nicht nur die reine Fahrzeit, sondern auch die durchschnittliche Wartezeit auf den Zug gehört. Bei einem Zwei-Stunden-Takt mit ICE beträgt diese durchschnittliche Wartezeit eine Stunde, bei einem Stundentakt mit IRE beträgt die durchschnittliche Wartezeit eine halbe Stunde.

Stellen wir doch einfach mal die Reisezeiten Ulm-Flughafen mit Stuttgart 21 und der NBS sowie mit einem etappierbaren Ausbau der Strecke Stuttgart-Ulm und des Bahnknotens Stuttgart gegenüber.

Reisezeit mit NBS und Stuttgart 21
1. Durchschnittliche Wartezeit auf den IRE in Ulm: 30 Minuten
2. Fahrzeit Ulm-Flughafenbahnhof: 40 Minuten
3. Gehzeit Flughafenbahnhof - Check-In-Schalter: 15 Minuten
Summe: 80 Minuten*
* dies gilt nur für den Fall, dass gesetzeswidrig Regionalzüge durch das Land BW für die NBS bestellt werden. Ansonsten sind die Reisezeiten noch wesentlich höher. 


Reisezeit mit einem Ausbau der Bestandsstrecke Stuttgart-Ulm sowie einem etappierbaren Ausbau des Bahnknotens Stuttgart (bei dieser Variante wird ein Halbstundentakt im Regionalverkehr zwischen Ulm und Stuttgart angeboten):
1. Durchschnittliche Wartezeit auf den IRE in Ulm: 15 Minuten
2. Fahrzeit Ulm-Plochingen: 40 Minuten
3. Umsteigezeit in Plochingen zur Express-S-Bahn: 5 Minuten
4. Fahrzeit Plochingen-Flughafen über Wendlingen mit Express-S-Bahn: 15 Minuten
5. Gehzeit vom bestehenden S-Bahnhof direkt unter dem Terminal zum Check-In-Schalter: 5 Minuten
Summe: 80 Minuten**
**Dies gilt in jedem Fall, weil die Regionalzüge ihr eigentliches Terrain auf der Filstalbahn (Bestandsstrecke) haben und weil ein etappierbarer Ausbau der Bestandsstrecke den Halbstundentakt im Regionalverkehr zwischen Ulm und Stuttgart ermöglicht.

Für Leute, die sich bisher nur über die Stuttgart 21-Propaganda zur Erreichbarkeit des Flughafens informiert haben, mag dieses Reisezeitergebnis eine Überraschung sein. Aber dieses Ergebnis ist belastbar. Es lautet, dass ein etappierbarer Ausbau des Bahnknotens Stuttgart und des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm für die Erreichbarkeit des Flughafens mindestens genauso gut (und letztendlich viel besser) ist wie die Projekte Stuttgart 21 und NBS Wendlingen-Ulm.     
                      
3. Stele
"Moderner, Schneller, Besser. Es kann doch nicht sein, dass auf der Europastrecke von Paris nach Wien Hochgeschwindigkeitszüge mit 70 km/h die Steigungen hochzockeln - und das im High-Tech-Ländle. Der Anschluss an die Zukunft muss jetzt gebaut werden".
Gibt es nun die Magistrale oder gibt es sie nicht? Bahnvorstand Kefer sagte während der sogenannten Schlichtung zu Stuttgart 21 unter Heiner Geißler, dass die Magistrale für Stuttgart 21 und die NBS keine Rolle spielt. Ich sage hier, dass die Magistrale eine Rolle spielt, jedoch ganz anders als es die Ulmer Propagandisten wahrhaben wollen.

Eine europäische Magistrale hat die Aufgabe, einen Schienenverkehrskorridor in Europa so leistungsfähig zu machen und technisch so auszustatten, dass er für alle Anbieter von Schienenverkehrsleistungen (Personen- und Güterverkehr) diskriminierungsfrei zugänglich ist.

Stuttgart 21 und die NBS erfüllen diese Grundforderung nicht. Die viel zu große Gleisneigung beim Stuttgart 21-Tiefbahnhof, die zu geringe Leistungsfähigkeit des Systems und die zu große Steigung der NBS sind nur einige Punkte, die der Idee der europäischen Magistrale widersprechen.

Zur Geislinger Steige mit ihrer aktuellen Geschwindigkeit von teilweise nur 70 km/h bliebe zu sagen, dass der Umfahrungstunnel Geislinger Steige heute schon längst fertig wäre, hätte man in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die bereits weit gediehenen Planungen zu Ende gebracht. Der Umfahrungstunnel Geislinger Steige wäre dann heute ein genauso wichtiger und selbstverständlicher Teil des Bahnnetzes wie etwa der Katzenbergtunnel in Südbaden oder der Lötschberg-Basistunnel in der Schweiz.

Und was den Hochgeschwindigkeitsverkehr betrifft, sollten sich die Ulmer nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Jedes Land hat seine spezifischen Vorgaben an den Fernverkehr, die letztendlich auch zum Beispiel aus der Siedlungsstruktur resultieren. In Deutschland beträgt der durchschnittliche Bahnhofsabstand im ICE-Verkehr nur 70 Kilometer. Das ist viel weniger als in Frankreich oder Spanien. Wenn man unbesehen das französische oder spanische Hochgeschwindigkeitssystem in Deutschland kopieren wollte, dann würde Ulm vom Fernverkehr gar nicht mehr angefahren werden. Dann würde der ICE nonstop zwischen Stuttgart und München fahren. Dann würde der ICE nördlich an Ulm vorbeifahren.

Bliebe noch der Schienengüterverkehr zu erwähnen. Mit Stuttgart 21 und der NBS Wendlingen-Ulm läuft Ulm Gefahr, früher oder später vom europäischen Schienengüterverkehr abgehängt zu werden. Denn den europäischen Sonderfall Geislinger Steige wird der Schienengüterverkehr der Zukunft nicht mehr nutzen wollen, geschweige denn die NBS mit ihren Rekordsteigungen. Nach dem Bau der NBS ist aber für einen Umfahrungstunnel Geislinger Steige kein Geld mehr da. Da ist es doch viel besser, man baut gleich die Bestandstrasse so aus, dass sie sowohl für den Fernverkehr als auch für den Güterverkehr als auch für den Regionalverkehr als auch für die S-Bahn Plochingen-Göppingen als auch für die Anwohner Vorteile bringt und die Anforderungen an eine europäische Magistrale erfüllt.     


4. Stele
"Nah! Durch die 28 Minuten kurze Fahrzeit rücken Stuttgart und Ulm näher zusammen. Die vielen großen Unternehmen, die Arbeitsplätze, der Flughafen, die City, die Messe.... all diese Möglichkeiten liegen bald vor unserer Haustür."
Solche Dinge können schnell nach hinten losgehen. Volllkommen rätselhaft bleibt, was denn die Ulmerinnen und Ulmer jetzt plötzlich jedes Wochenende in Stuttgart machen sollen. Dort gibt es doch lediglich dieselben Filialisten wie anderswo auch. Und an historischen und denkmalgeschützten Gebäuden hat Ulm sogar mehr zu bieten als Stuttgart.

Als man die Ostseeautobahn A20 eröffnete, brachte sie für Mecklenburg-Vorpommern nicht den erhofften Wirtschaftsaufschwung. Im Gegenteil wurden Arbeitsplätze und Einwohner noch mehr in Richtung Hamburg abgezogen. Das könnte auch Ulm passieren.

Aber selbst wenn jemand aus Ulm gerne nach Stuttgart fahren sollte, ist eine Fahrzeit im Fernverkehr von 43 Minuten - wie sie der etappierbare Ausbau der Bestandsstrecke bietet - mehr als akzeptabel.  

Aber es kann auch das Gegenteil eintreten. Wer will schon für eine Fahrt nach Stuttgart im ICE über die NBS wegen der exorbitant hohen Trassenpreise das Doppelte im Vergleich zu heute bezahlen? Im Gegensatz zur A 20 könnte die NBS also bald als teure, nicht adäquat genutzte Bahnstrecke dastehen.

Fazit
Diese Melange aus Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Weglassungen zu Stuttgart 21 und zur NBS machen aus der Region Ulm ein neuzeitliches Tal der Ahnungslosen.

Jedenfalls sollten sich die Mitarbeiter des Hauses der Geschichte von Baden-Württemberg für die Stelen beim Ulmer Hauptbahnhof interessieren. Denn spätere Generationen werden ob dieser Propaganda nur noch verwundert den Kopf schütteln.   
  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.