Sonntag, 5. April 2015

Das neue Fernverkehrskonzept der Bahn zeigt die Absurdität von Stuttgart 21

Die Bahn hat vor wenigen Wochen ein neues Fernverkehrskonzept angekündigt. Das Konzept sieht zusätzliche IC-Linien vor, so dass alle Städte über 100.000 Einwohner an das IC-Netz angebunden werden. Davon betroffen in BW sind vor allem die Großstädte Heilbronn und Reutlingen. Darüber hinaus sollen weitere Städte zwischen 50.000 und 100.000 Einwohner mit Doppelstock-ICs angebunden werden (in BW z.B. Esslingen, Ludwigsburg, Göppingen, Aalen, Schwäbisch Gmünd, Waiblingen, Friedrichshafen). Bestehende IC-Verbindungen sollen dichter befahren werden (in BW z.B. Pforzheim).

Im heutigen Post in diesem Blog sehen wir uns das neue Konzept näher an. Interessant sind vor allem die Schnittstellen zwischen dem neuen Fernverkehrskonzept und dem Regionalverkehr sowie zwischen dem neuen Konzept und dem Projekt Stuttgart 21.


Der Zeithorizont 2030 des neuen Fernverkehrskonzepts ist eine Karikatur
Als Allererstes fällt der lange Zeithorizont bis 2030 für die Umsetzung des neuen Fernverkehrskonzepts auf. Damit karikiert sich das Konzept selbst. Wer weiß denn heute schon, was in 15 Jahren der Fall sein wird? Das neue Fernverkehrskonzept ist ja in seinen wesentlichen Teilen auch keine absolute Neuheit. Es war vielmehr bereits da - in Form des Interregio-Konzepts, das vor mehr als einem Jahrzehnt leider eingestellt worden ist.

Die Konkurrenz der Bahn setzt ihre Konzepte in wesentlich kürzerer Zeit um. So braucht der potenzielle Autokäufer bestimmt keine 15 Jahre, bis er sich für eine Automarke und ein Automodell entscheidet. Die Fluglinien in Europa setzen Konzepte zur Flottenerweiterung und zur Bedienung neuer Flughäfen innerhalb ganz weniger Jahre um. Die Fernbuslinienbetreiber eröffnen neue Linien und Haltestellen im Monatsrhytmus.

Vor diesem Hintergrund scheint das neue Fernverkehrskonzept der Bahn kein ernsthafter Versuch zu sein, Verkehrsanteile von anderen Verkehrsmitteln zur Bahn zu lenken. Vielmehr wird die Bahn damit weiter ins Abseits geschoben. Die Konkurrenten der Bahn können frohlocken.

Die Durchbindung der Gäubahn im Stuttgarter Hauptbahnhof funktioniert auch und gerade ohne Stuttgart 21
Als eine der ersten Maßnahmen des neuen Fernverkehrskonzepts in BW sollen bereits im Dezember 2018 die von der Gäubahn kommenden Fernverkehrszüge im Stuttgarter Hauptbahnhof durchgebunden werden und weiter über Schwäbisch Hall und Crailsheim nach Nürnberg fahren.

Moment mal! War da nicht irgend etwas? War es nicht Bestandteil der Stuttgart 21-Propaganda für die entlang der Gäubahn wohnenden Bürger, dass nur mit Stuttgart 21 die Gäubahn in Richtung Nürnberg durchgebunden werden kann? Mit diesem und anderen Argumenten wollte man doch die Bürger im Südwesten von BW für Stuttgart 21 gewinnen. Zu den anderen Propaganda-Argumenten bei der Gäubahn zählte z.B. die Behauptung, dass der Fernverkehrshalt in Böblingen nur mit Stuttgart 21 möglich wäre, sowie dass die Anbindung der Gäubahn an den Flughafen an Stelle von S-Vaihingen für die Fahrgäste besser wäre, sowie dass die Gäubahn über den Flughafen schneller zum Hauptbahnhof komme als über S-Vaihingen.

Alle diese Argumente erwiesen sich von Anfang an bei näherer Betrachtung vollständig aus der Luft gegriffen. Die Durchbindung der Gäubahn nach Nürnberg lässt sich mit dem Kopfbahnhof genauso oder vielmehr sogar besser und flexibler bewerkstelligen als mit Stuttgart 21. Die Fahrzeiten einschließlich der Standzeiten im Hauptbahnhof sind für die Züge der Gäubahndurchbindung zwischen Herrenberg und Waiblingen bei einer Führung über den Kopfbahnhof keineswegs länger als bei Stuttgart 21. Im Gegenteil: Es ist ja noch gar nicht genau nachgewiesen, wie lang die Fahrzeit der Gäubahndurchbindung bei Stuttgart 21 überhaupt sein würde mit
  • der eingleisigen Führung im Zweirichtungsbetrieb im Bereich Flughafenbahnhof
  • der höhengleichen Gleiskreuzung mit dem S-Bahnverkehr westlich des Flughafenbahnhofs
  • den gleich drei Mischverkehrsstrecken (Herrenberg-Rohr, Rohr-Flughafen, Flughafen-Hauptbahnhof)
  • der Einfädelung in die ICE-Strecke von Wendlingen
  • der Annäherung im Gefälle (Fahrtrichtung Herrenberg) an den S21-Hauptbahnhof
  • den im S21-Hauptbahnhof immer wieder auftretenden Gleis-Doppelbelegungen mit den daraus folgenden Geschwindigkeitsbegrenzungen
  • der im Vergleich zum Kopfbahnhof längeren Strecke zwischen dem Hauptbahnhof und Bad Cannstatt bei Stuttgart 21.

Soll das neue Fernverkehrskonzpept auf Umwegen über Regionalisierungsmittel finanziert werden?
Das neue Fernverkehrskonzept der Bahn könnte sich als trojanisches Pferd erweisen. Höchste Wachsamkeit der Landesregierung vor allem im Hinblick auf die Schnittstellen zwischen dem eigenwirtschaftlich von der Bahn zu betreibenden Fernverkehr und dem vom Land mit Regionalisierungsmitteln zu bestellenden Regionalverkehr ist vonnöten - auch wenn klar ist, dass das Land nur einen begrenzten Einfluss auf den von der Bahn eigenwirtschaftlich zu betreibenden Fernverkehr hat.

Besonders ist darauf zu achten, ob die Bahn als Folge der Neueinrichtung eines IC-Anschlusses die Stationspreise an einem Bahnhof erhöht, indem sie den Bahnhof in eine höhere Kategorie einstuft. Trotz des zusätzlichen Halts von IC-Zügen stellen die Regionalzüge weiterhin die überwiegende Mehrzahl aller an den Bahnhöfen haltenden Züge. Höhere Stationspreise würden somit vor allem den Regionalzugverkehr treffen. Der Regionalzugverkehr würde für das Land teurer mit der Folge, dass weniger Züge bestellt werden können. Die Bahn würde sich somit ihre neuen Fernzüge auf dem Umweg über die Stationspreise vom Land finanzieren lassen. Den neuen Fernzügen stünden Abbestellungen von Regionalzügen gegenüber. Gewonnen wäre am Ende gar nichts.

Bestehen Gefahren für den Fahrplantakt beim Regionalverkehr?     
Die neuen Fernverkehrspläne der Bahn sind auch unter dem Aspekt zu untersuchen, dass das Land BW ja auch große Pläne für einen besseren Regionalverkehr hat. Diese Pläne sehen zum Beispiel schnelle Regionalzüge pro Stunde auf praktisch allen vom Stuttgarter Hauptbahnhof ausgehenden Radiallinien vor. Diese schnellen Regionalzüge dürften sich in Bezug auf das rollende Material und vor allem in Bezug auf die durchschnittliche Beförderungsgeschwindigkeit kaum von den zukünftigen ICs der Bahn unterscheiden.

Es sind nun mehrere Varianten für die Bedienung dieser Radialstrecken denkbar (nehmen wir mal als Beispiel die Strecke Stuttgart-Backnang-Crailsheim-Nürnberg).

Variante A: Es findet zukünftig ein Stundentakt mit schnellen Regionalzügen statt.
Variante B: Es findet ein Stundentakt mit schnellen Regionalzügen statt. Die Bahn setzt zusätzlich alle zwei Stunden einen IC ein.
Variante C: Das Land BW fährt bei den schnellen Regionalzügen nur den Zweistundentakt, der zusammen mit den ebenfalls verkehrenden zweistündlichen ICs der Bahn zu einem Stundentakt überlagert wird.

Die Variante B ist wohl eher unwahrscheinlich. Denn die Bahn liefe hier Gefahr, dass ihre eigenwirtschaftlich zu betreibenden ICs halbvoll oder leer durch die Gegend fahren.

Die Variante A ist die für die Fahrgäste und für das System Bahn beste Variante. Es besteht für alle Fahrgäste (auch für die Fahrgäste mit Regionalverkehrstickets) eine barrierefreie Zugänglichkeit zu einem attraktiven Bahnsystem mit gut zu merkenden stündlichen Abfahrten und ohne Einschränkungen beim Tarif.

Die Variante C wäre schlecht für die Zugänglichkeit und für die Attraktivität des Bahnsystems. Fahrgäste mit Regionalverkehrstickets könnten nur noch alle zwei Stunden einen schnellen Zug benutzen. Diese Variante wäre nur dann tolerabel, wenn nach dem Vorbild der Planungen für die Gäubahn das Land den IC der Bahn zum Teil mitfinanziert und somit auch für Fahrgäste mit Regionalverkehrstickets zugänglich macht.

Die geplanten neuen Fernzüge der Bahn stellen somit keineswegs von vornherein eine Verbesserung des Systems Bahn dar. Das Land muss ganz genau hinsehen und beim ersten Anzeichen einer Fehlentwicklung eingreifen.

30 Jahre Planung von Stuttgart 21 haben im Land einen Bahn-Scherbenhaufen hinterlassen
Gehen wir mal in einer positiven Annahme davon aus, dass sowohl das Land als auch die Bahn in den kommenden Jahren gewillt sein werden, mehr Züge auf die Schiene zu bringen und die Attraktivität der Bahn maßgeblich zu steigern. Dann sind allerdings Streckenausbauten unabdingbar.

Allein für das jetzt vorgestellte neue Fernverkehrskonzept der Bahn sind in Verbindung mit den Plänen des Landes für einen besseren Regionalzugverkehr in Württemberg die folgenden Ausbauten erforderlich:
  • Drittes Gleis zwischen Waiblingen und Schorndorf
  • Abschnittsweise zweigleisiger Ausbau zwischen Aalen und Crailsheim
  • Abschnittsweise zweigleisiger Ausbau zwischen Backnang und Schwäbisch Hall-Hessental
  • Durchgehende Zweigleisigkeit zwischen Heilbronn und Würzburg
  • Drittes Gleis zwischen Böblingen und Herrenberg
  • Zweigleisiger Ausbau zwischen Horb und Tuttlingen
  • Elektrifizierung von Ulm über Friedrichshafen nach Lindau
  • Abschnittsweiser zweigleisiger Ausbau zwischen Friedrichshafen und Lindau
  • Elektrifizierung und Doppelspurinseln von Tübingen über Albstadt nach Sigmaringen
  • Fünftes und ggf. sechstes Gleis zwischen Bad Cannstatt und S-Hauptbahnhof*
  • Drittes Gleis zwischen Plochingen und Göppingen**
  • Umfahrungstunnel Geislinger Steige (3. und 4. Gleis) zur Kapazitätserhöhung und zur vollen Tauglichmachung für den langen und schweren Güterverkehr***
* Diese Maßnahme wird durch Stuttgart 21 überflüssig.
** Diese Maßnahme wird durch die NBS Wendlingen-Ulm überflüssig.
*** Diese Maßnahme wird durch die NBS Wendlingen-Ulm nur zum Teil überflüssig. Die NBS löst nur das Kapazitätsproblem, nicht jedoch das Problem der Untauglichkeit für lange und schwere Güterzüge.

Von mindestens zwölf dringend erforderlichen Ausbaumaßnahmen im Bahnnetz von Württemberg deckt das Projekt Stuttgart 21 somit gerade einmal eine Ausbaumaßnahme ab. Die NBS Wendlingen-Ulm deckt gerade mal eineinhalb weitere Ausbaumaßnahmen ab.

Das Land BW läuft somit beim Ausbau seines Bahnnetzes und beim Bestreben, die Bahn attraktiver zu machen, Gefahr zu scheitern. 30 Jahre sind bereits vergangen, um das Projekt Stuttgart 21 sowie die NBS Wendlingen-Ulm auf die Schiene zu bringen. Dabei sind diese Projekte gerade mal in der Lage, ca. 20 Prozent der dringendst erforderlichen Schienenausbaumaßnahmen in Württemberg abzudecken. Bei Stuttgart 21 kommt noch erschwerend hinzu, dass den Ausbaumaßnahmen bei der Zufahrt Bad Cannstatt zum Hauptbahnhof andere, kapazitätseinschränkende Maßnahmen gegenüberstehen, wie zum Beispiel über 20 neue, höhengleiche Betriebsabwicklungen (z.B. höhengleiche Gleiskreuzungen), wie zum Beispiel auch der Stuttgart 21-Flughafenmurks mit einem europaweit einmaligen Feuerwerk an Engpässen, oder wie zum Beispiel die Reduzierung der Zahl der Bahnsteige im Hauptbahnhof von 16 auf 8. Es ist vor diesem Hintergrund anzunehmen, dass Stuttgart 21 unter dem Strich gar keine Kapazitätsausweitung, sondern vielmehr einen Kapazitätsrückschritt bringen würde.

Eine Landesregierung, die an einer attraktiven Bahn, an einem attraktiven Standort Baden-Württemberg und an einer nachhaltigen Bewältigung des Verkehrs interessiert ist, hätte in den vergangenen 30 Jahren zusammen mit der Bahn und dem Bund darauf hingewirkt, dass die genannten Ausbaumaßnahmen im Schienenetz von Württemberg (und selbstverständlich weitere Ausbaumaßnahmen im badischen Landesteil) umgesetzt werden. Das hat die Landesregierung nicht gemacht. Die Folgen für das Land werden in den kommenden 50 Jahren zu spüren sein. Das Land steht vor dem Scherbenhaufen seiner Bahnpolitik. Ein sofortiger Stopp von Stuttgart 21 kann den Schaden mildern, aber nicht mehr vollständig abwenden.
  
        

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