Auf den ersten Blick kann man mit dieser Zahl 15 Promille vielleicht nicht viel anfangen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die in Deutschland geltende Eisenbahn- und Betriebsordnung EBO eine Gleisneigung von maximal 2,5 Promille in Bahnhöfen als den anzustrebenden Normalfall ansieht. (§7 (2) EBO: Die Längsneigung von Bahnhofsgleisen, ausgenommen Rangiergleise und solche Bahnhofsgleise, in denen die Güterzüge durch Schwerkraft aufgelöst oder gebildet werden, soll bei Neubauten 2,5 von Tausend nicht überschreiten.) Die EU lässt inzwischen für Bahnhöfe des Kernnetzes Längsneigungen von über 2,5 Promille zu, wenn dort nicht regelmäßig Personenwagen angehängt oder abgekuppelt werden sollen. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass hinter der Regel in der aktuell gültigen Form eine bestimmte Interessenlage steht, die möglicherweise mit Stuttgart 21 zusammenhängt.
Die Gleisneigung des Stuttgart 21-Hauptbahnhofs kann man dann am Besten sehen, wenn es horizontale und/oder vertikale Bezugslinien gibt. Das ist z.B. aktuell beim Bau der Grundfläche mit den Bahnsteigen des Tiefbahnhofs der Fall, wie das nachfolgende Bild zeigt.
Die vertikalen Bezugslinien des Bahnhofsturms und die horizontalen Bezugslinien der Empfangshalle des Hauptbahnhofs zeigen deutlich die Längsneigung der Bahnsteige des Stuttgart 21-Tiefbahnhofs. |
Nicht zuletzt auch im Sach- und Faktencheck zu Stuttgart 21 unter Heiner Geißler war die Längsneigung der Gleise und Bahnsteige im Stuttgart 21-Tiefbahnhof mit der dadurch gegebenen Gefahr des Wegrollens von Koffern und Kinderwagen ein Thema. Der damalige Bahnvorstand Kefer hat dann prompt zugesagt, dass die Oberfläche der Bahnsteige zusätzlich quergeneigt ausgebildet wird, so dass eventuell rollende Koffer und Kinderwagen weg vom Gleis und in die Bahnsteigmitte rollen.
Hierzu könnte man sagen, dass die Bahnsteige mit der Längsneigung und der dazukommenden Querneigung nun ganz schön viele Neigungen aufweisen und möglicherweise schwer zu begehen oder zu befahren sind. Allerdings ist das Wegrollen von Koffern und Kinderwagen und die Neigung der Bahnsteige nicht das größte Problem in diesem Zusammenhang.
Man mag die Sache mit den rollenden Kinderwagen und Koffern auf den schiefen Bahnsteigen des Stuttgart 21-Tiefbahnhofs vielleicht noch als Angstmache abtun. Brisant wird es jedoch, wenn zwei Anomalien zusammenkommen. Im Fall des Stuttgart 21-Tiefbahnhofs sind dies die Gleisneigung und die Doppelbelegung der Bahnsteige.
Beim Stuttgart 21-Tiefbahnhof kommen zwei Anomalien zusammen
Eine Doppelbelegung der Bahnsteige kann man heute z.B. im Ulmer Hauptbahnhof relativ häufig beobachten - allerdings ohne zusätzliche Gleisneigung. Der Ulmer Hauptbahnhof hat zu wenig Bahnsteige. Deshalb stehen dort auf den für den Regionalverkehr reservierten Bahnsteigen häufig zwei Züge. Die Bahnsteige sind in die Bereiche Nord und Süd unterteilt.
Obwohl ich relativ häufig mit der Bahn fahre, ist es mir schon mal passiert, dass ich in Ulm an einem Bahnsteig mit Doppelbelegung in den falschen Zug eingestiegen bin. Das kam daher, dass ein Zug mit seinem Zugende noch in denjenigen Teil des Bahnsteigs hineinragte, an dem der Zuganzeiger am Bahnsteig den anderen an diesem Bahnsteig haltenden Zug angekündigt hat.
Auch diese Verwechslungsgefahr kann man vielleicht noch als Peanuts abtun. Bedeutender sind jedoch die Auswirkungen der Doppelbelegungen auf die Fahrzeit der Züge und damit auf die Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21. Der zweite in einen Gleisabschnitt mit Doppelbelegung einfahrende Zug kann nur mit relativ niedriger Geschwindigkeit in den Bahnhof einfahren.
Man kann dies im Großraum Stuttgart ebenfalls beobachten. Dafür kommen diejenigen Stellen in Frage, wo Züge planmäßig zusammengekuppelt werden. Denn das Zusammenkuppeln von Zügen im Bahnhof ist eine Unterart der Doppelbelegung von Gleisabschnitten. Dies findet zum Beispiel in Renningen statt, wo zu bestimmten Tageszeiten der Zug der S 6 von Weil der Stadt mit dem Zug der S 60 von Böblingen zusammengekuppelt wird. Ein anderes Beispiel ist der Bahnhof Eutingen im Gäu, wo alle zwei Stunden der Zug von Rottweil mit dem Zug von Freudenstadt zusammengekuppelt wird. An diesen Stellen kann man beobachten, dass der zweite in den Abschnitt mit Doppelbelegung einfahrende Zug über eine längere Strecke hinweg nur mit stark verminderter Geschwindigkeit fahren darf.
Doppelbelegung heißt nicht zwangsläufig, dass zwei Züge fahrplanmäßig gleichzeitig am Bahnsteig stehen. Auch das konnte man während des Sach- und Faktenchecks zu Stuttgart 21 lernen. Ein Teil der sogenannten Doppelbelegungen im Stuttgart 21-Tiefbahnhof sind lediglich verkürzte Durchrutschwege. Das heißt konkret, dass z.B. der erste Zug den Bahnsteig gerade verlässt, während der Folgezug bereits unmittelbar auf den Bahnhof zufährt. Auch die aus einem verkürzten Durchrutschweg resultierenden Doppelbelegungen haben jedoch Folgen auf die Fahrzeiten, weil auch hier der Folgezug nur langsam fahren kann.
Negative Auswirkungen auf die Fahrzeit und die Leistungsfähigkeit
Die im Stuttgart 21-Tiefbahnhof geplanten Doppelbelegungen haben somit einerseits negative Auswirkungen auf die Fahrzeit einiger Züge als auch negative Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 insgesamt. Es kommt aber noch schlimmer. Die Doppelbelegungen beim schiefen Stuttgart 21-Tiefbahnhof sind noch gar nicht genehmigt. Eine mögliche Genehmigung oder eben auch Nicht-Genehmigung erfolgt erst vor Aufnahme des Probebetriebs. Es ist also ein Spiel mit ungewissem Ausgang, wenn man jetzt als Grundlage für Fahrpläne eine mögliche Doppelbelegung der Bahnsteiggleise im Stuttgart 21-Tiefbahnhof macht.
Die unsichere Genehmigung der Doppelbelegung ergibt jetzt Handlungsbedarf
Damit ergibt sich jedoch ein unmittelbarer Handlungsbedarf für die Politiker. Der BUND hat die Notwendigkeit eines zusätzlichen ca. 8gleisigen Kopfbahnhofs zum Stuttgart 21-Tiefbahnhof unter anderem damit begründet, dass wegen der wahrscheinlichen Versagung der Betriebsgenehmigung für die Doppelbelegungen zusätzliche Bahnsteigkapazität im Stuttgarter Hauptbahnhof benötigt wird. Damit gibt es einen weiteren Grund für diesen Kopfbahnhof, der unmittelbar über dem Tiefbahnhof zu liegen kommen sollte. Andere Gründe sind z.B.
- die Notwendigkeit, die Gäubahn über die Panoramastrecke zu erhalten und in den Hauptbahnhof (Kopfbahnhof) hineinzuführen,
- die Notwendigkeit, für die Zufahrt Zuffenhausen ein fünftes und sechstes Gleis zu bauen, das dann über den bestehenden Pragtunnel in den Hauptbahnhof (Kopfbahnhof) geführt wird,
- die Notwendigkeit, zur Entlastung der Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn vier Züge pro Stunde und Richtung während des 15 Minuten-Takts aus der Stammstrecke herauszunehmen und in den Kopfbahnhof zu führen und
- die Notwendigkeit, im Rahmen des Deutschlandtakts mehr Bahnsteiggleise im Stuttgarter Hauptbahnhof vorzuhalten.
Verantwortungsbewusste Politiker sollten jetzt schnell handeln. Der schiefe Bahnhof von Stuttgart mag ja noch ein gewisses Kuriosum darstellen. Ein Stuttgarter Hauptbahnhof, der nicht die erforderliche Leistungsfähigkeit aufweist sowie ggf. nicht richtig am Deutschlandtakt teilnehmen kann, ist jedoch ein Schaden für die ganze Region Stuttgart.
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