Donnerstag, 2. März 2017

Stuttgart 21 verhindert die wichtige zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn

In Leipzig haben die Diskussion und die Vorplanungen für eine zweite Stammstrecke der S-Bahn (zweiter City-Tunnel) in diesen Tagen Fahrt aufgenommen. Die Entwicklung von Leipzig läuft damit diametral entgegengesetzt zur Entwicklung in Stuttgart, wo das Projekt Stuttgart 21 eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn verunmöglicht und verhindert.

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung persönlich hat jetzt den baldigen Bau einer zweiten Stammstrecke für die S-Bahn gefordert. Hintergrund sind die prognostizierten Einwohnerzuwächse für Leipzig in den kommenden 15 Jahren, die Zunahme des Autoverkehrs, sowie die langen Planungsvorläufe für den Bau eines zweiten City-Tunnels. Wenn ab Anfang der Dreißiger Jahre mit dem Bau des zweiten City-Tunnels begonnen werden soll, müssen wegen der langen Planungszeiträume ab sofort die Vorplanungen dafür starten. Zudem muss die neue Trasse in die Verkehrs- und Bauleitpläne sowie in die Finanzierungsprogramme aufgenommen werden.

Die folgenden Themen wollen wir im heutigen Post in diesem Blog ansprechen:
  • Wie könnte die zweite Stammstrecke der S-Bahn (der zweite City-Tunnel) in Leipzig verlaufen?
  • Warum benötigt gerade und vor allem Stuttgart eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn?
  • Wie verunmöglicht und behindert das Projekt Stuttgart 21 den Bau einer zweiten Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn?
  • Wie wäre die zweite Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn verlaufen, hätte es Stuttgart 21 nicht gegeben?
  • Warum beinhaltet das Projekt Stuttgart 21 keine zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn?
  • Was kann und muss jetzt getan werden, damit trotz Stuttgart 21 der Schienennahverkehr in der Metropolregion Stuttgart noch eine Chance auf Zukunft hat?

Wie könnte die zweite Stammstrecke der S-Bahn (der zweite City-Tunnel) in Leipzig verlaufen?
Der bestehende Leipziger City-Tunnel (= erste Stammstrecke der Leipziger S-Bahn) wurde im Jahr 2013 eröffnet. Damit erhielt Leipzig seine erste Stammstrecke der S-Bahn 28 Jahre später als Stuttgart, wo die erste Stammstrecke der S-Bahn in den Jahren von 1978 bis 1985 eröffnet worden ist.

Diese enorme Verspätung in Leipzig war eine Folge der Deutschen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die DDR hatte nicht die Finanz- und Wirtschaftskraft, um den seit Jahrzehnten geplanten Leipziger City-Tunnel zu finanzieren. Erst nach der Wende konnten die entsprechenden Planungen vorangetrieben werden.

In Bezug auf den zweiten City-Tunnel und somit die zweite Stammstrecke der S-Bahn scheint nun aber ironischerweise Leipzig Stuttgart zu überholen. Während in Leipzig die Planungen für die zweite Stammstrecke jetzt Fahrt aufnehmen, sind in Stuttgart entsprechende Planungen wegen des Projekts Stuttgart 21 verunmöglicht bzw. um ca. 60 Jahre verschoben. Leipzig schließt damit zu Städten wie Hamburg, Berlin, Zürich, München und zahlreichen anderen Städten in Europa auf, wo eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn bzw. zweite Durchmesserlinie entweder schon in Betrieb oder in Bau oder in konkreter Planung ist.

Der erste City-Tunnel in Leipzig verläuft in ungefährer Nord-Süd-Richtung. Er umfasst die unterirdischen Haltepunkte Hauptbahnhof, Markt, Wilhelm-Leuschner-Platz und Bayerischer Bahnhof.

Für den zweiten City-Tunnel in Leipzig sind die folgenden Planungsvorgaben gesetzt:
  • Der Tunnel soll in ungefährer Ost-West-Richtung verlaufen.
  • Der Tunnel soll ebenfalls über den Hauptbahnhof führen.
Die letztgenannte Vorgabe ist eigentlich für eine Stammstrecke = Durchmesserlinie = radiale Bahnstrecke selbstverständlich. Sie kann an dieser Stelle jedoch nicht genug betont werden, weil es für Stuttgart tangentiale Planungsphantasien (z.B. T-Spange) gibt, die nicht als zweite Stammstrecke der S-Bahn gelten können und die äußerst problematisch sind.

Für den zweiten City-Tunnel in Leipzig sind die unterirdischen Haltepunkte Hauptbahnhof (rechtwinklig zum Haltepunkt Hauptbahnhof des ersten City-Tunnels), Sportforum/Arena/Uni, Lindenauer Markt, Gerichtweg und Friedrich-List-Platz geplant. Östlich des Hauptbahnhofs ist eine unterirdische Streckenverzweigung geplant.

Warum benötigt gerade und vor allem Stuttgart eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn?
Die erste Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn ist wegen der Zunahme der Fahrgäste und wegen neuer Fahrzeuge, die längere Türöffnungs- und Schließzeiten haben, überlastet.

Gerade in der Metropolregion Stuttgart müssen jedoch in den kommenden Jahren überdurchschnittlich viele Autofahrten durch Fahrten mit der Bahn ersetzt werden. Das hat seine Ursache in der Topographie der Region (z.B. Stuttgarter Talkessel), die Straßenneubauten verteuert und die zu einer überdurchschnittlichen Luftbelastung durch den Autoverkehr führt.

Der wichtigste Grund für die Notwendigkeit einer zweiten Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn sind jedoch die ungünstigen Parameter der ersten Stammstrecke. Ein gutes, wirtschaftliches S-Bahnnetz zeichnet sich dadurch aus, dass auf beiden Seiten der Stammstecke in etwa gleich viele Streckenäste bestehen. Das ist bei nahezu allen S-Bahnnetzen in Europa der Fall - mit Ausnahme der Stuttgarter S-Bahn.

Sechs Streckenästen auf der einen Seite der Stammstrecke stehen bei der Stuttgarter S-Bahn nur zwei Streckenäste auf der anderen Seite der Stammstrecke gegenüber. Das führt dazu, dass die Hälfte aller S-Bahnzüge nicht durchgebunden werden kann, sondern mitten auf der Stammstrecke enden und wenden muss. Hierzu musste sogar eine teure, 1,5 Kilometer lange, unterirdische Wendeschleife gebaut werden. Zwei weitere S-Bahnlinien enden zum Teil in Stuttgart-Vaihingen und werden damit ebenfalls nicht richtig durchgebunden.

Der Grund für diese ungünstige Konstellation liegt darin, dass die Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn die beiden Hauptzufahrten zum Stuttgarter Hauptbahnhof, die Zufahrten Bad Cannstatt und Zuffenhausen, nicht direkt miteinander verbindet.

Damit ist aber das Pflichtenheft für eine zweite Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn bereits klar. Diese Strecke muss den Hauptbahnhof bedienen und gleichzeitig die beiden Zufahrten Bad Cannstatt und Zuffenhausen direkt miteinander verbinden.

Wie verunmöglicht und behindert das Projekt Stuttgart 21 den Bau einer zweiten Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn?
Da ist zunächst die bauliche Problematik. Der Tiefbahnhof von Stuttgart 21 mit seinen Zuläufen liegt wie ein Riegel quer zum Stuttgarter Talkessel. Für neue Stammstrecken, die eher längs oder diagonal zum Stuttgarter Talkessel verlaufen, ist da kein Platz mehr. Das gilt sowohl für eine zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn als auch für eine dritte Stammstrecke für die Stuttgarter Stadtbahn. Bei der Stuttgarter Stadtbahn gibt es wenigstens noch die Option, die dritte Stammstrecke als Niederflur-Straßenbahnstrecke zu betreiben und an der Oberfläche zu führen.

Dann gibt es aber auch eine finanzielle und zeitliche Problematik. Stuttgart 21 wurde in einem Überraschungscoup im Jahr 1994 der Öffentlichkeit präsentiert. Nehmen wir mal an, dass Stuttgart 21 hinter den Kulissen so ca. ab dem Jahr 1990 konkret wurde. Eine Inbetriebnahme von Stuttgart 21 ist realistischerweise nicht vor 2025 zu erwarten. Somit hat Stuttgart 21 den Start von konkreten Planungen für eine zweite S-Bahnstammstrecke bereits von 1990 bis 2025, somit also 35 Jahre lang behindert.

Das ist aber noch nicht alles. Ungeachtet der genannten baulichen Probleme würde die Planung für eine zweite Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn niemals ab dem Jahr 2025 starten können. Denn wegen der ungeklärten Finanzierung von Stuttgart 21 werden die Beteiligten ab 2025 erst mal damit zu tun haben, sich zu streiten und die zusätzlichen Milliarden irgendwo her zu bekommen. Zudem wird gerade der Bund, den man für die Kofinanzierung einer zweiten Stammstrecke der S-Bahn braucht, nach 2025 erst mal auf die Bremse treten. Der Bund wird argumentieren, dass er für Stuttgart 21 genügend Geld zugeschossen hat (ob direkt oder indirekt als Finanzhilfe für die Bahn ist unerheblich), und dass deswegen jetzt erst mal andere Regionen in Deutschland mit einer Förderung an der Reihe sind.

Zudem werden nach einer Inbetriebnahme von Stuttgart 21 alle Beteiligten erst mal damit zu tun haben, die größten Engstellen des Projekts mit Notmaßnahmen zu beseitigen. Niemand wird da an eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn denken.

Wie wäre die zweite Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn verlaufen, hätte es Stuttgart 21 nicht gegeben?
Dieser Absatz hat nur noch dokumentatorischen Wert. Denn die hier genannte zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn kann wegen Stuttgart 21 so nicht mehr gebaut werden. 

Das Pflichtenheft für die zweite Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn ist klar:
  • Die Strecke muss über den Hauptbahnhof führen.
  • Die Strecke muss die beiden Zufahrten Bad Cannstatt und Zuffenhausen direkt miteinander verbinden.
  • Es müssen zwei zusätzliche Gleise zwischen den Bahnhöfen Bad Cannstatt und Hauptbahnhof gebaut werden.
  • Es müssen zwei zusätzliche Gleise zwischen dem S-Bahnhaltepunkt Zuffenhausen und dem Hauptbahnhof gebaut werden.
  • Es sind zusätzliche Bahnsteige beim Hauptbahnhof erforderlich.
  • Die Streckenäste auf beiden Seiten der zweiten Stammstrecke müssen in etwa gleich stark sein.
Somit ergibt sich der folgende Verlauf für die zweite Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn:

Von Bad Cannstatt kommend geht es auf zwei neuen Gleisen zum Hauptbahnhof. Es gibt einen zusätzlichen Haltepunkt Hauptbahnhof. Er befindet sich unter dem Kurt-Georg-Kiesinger-Platz und verläuft in einem Winkel von ca. 30 Grad zum Haltepunkt der ersten Stammstrecke. Weiter geht es in einem Tunnel unter der Kriegsbergstraße, unter dem Hegelplatz und unter der Hegelstraße. Es gibt eine Option für einen neuen S-Bahnhaltepunkt unter der Hegelstraße etwa bei der Einmündung der Seidenstraße.

Der Tunnel der zweiten Stammstrecke verläuft dann weiter in einem großen Bogen unter dem Kräherwald und dem Killesberg hindurch bis zum Haltepunkt Feuerbach, der unterirdisch angelegt werden muss. Von dort geht es an der Oberfläche mit zwei zusätzlichen Gleisen weiter nach Zuffenhausen.

Vom Tunnel unter dem Kräherwald gibt es eine Tunnelabzweigung, die entlang der B 295-Umfahrung Weilimdorf bis Ditzingen führt und die eine wesentlich schnellere Verbindung von Städten wie Calw, Weil der Stadt und Leonberg zum Stuttgarter Hauptbahnhof ermöglicht.

Die zweite Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn wird um eine Süderweiterung des S-Bahnnetzes ergänzt. Vom bestehenden S-Bahnhof Flughafen führt eine Express-S-Bahnlinie entlang der A8 weiter nach Nürtingen, eine zweite Express-S-Bahnlinie führt nach Wendlingen und Plochingen und eine dritte Express-S-Bahnlinie führt nach Kirchheim/Teck und weiter nach Weilheim/Teck-Bad Boll-Göppingen.

Warum beinhaltet das Projekt Stuttgart 21 keine zweite Stammstrecke für die Stuttgarter S-Bahn?
Es wird immer wieder argumentiert, dass neben Stuttgart 21 keine zweite Stammstrecke der S-Bahn erforderlich sei, weil das Projekt Stuttgart 21 so etwas darstelle wie eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn.

Das ist ganz und gar falsch.

Das Projekt Stuttgart 21 erfüllt die Mehrzahl der Anforderungen, die weiter oben für eine zweite Stammstrecke der S-Bahn genannt sind, nicht. So gibt es für die Zufahrt Zuffenhausen keine zusätzlichen Gleise zu den beiden vorhandenen Gleisen. Es gibt auch im Hauptbahnhof keine zusätzliche Gleiskapazität. Und es gibt bei Stuttgart 21 nach wie vor keine direkte Verbindung der Strecke von Bad Cannstatt über den Hauptbahnhof zur Strecke nach Zuffenhausen.

Die Probleme der Zufahrt Zuffenhausen bei Stuttgart 21 sind hier in diesem Blog schon vielfach zur Sprache gekommen. Diese Zufahrt hat heute und auch beim Projekt Stuttgart 21 nur zwei Gleise. Die beiden Gleise sind im Berufsverkehr bereits heute ausgelastet. Es ist vollkommen indiskutabel, dass diese beiden vorhandenen Gleise auch noch eine zweite S-Bahn-Stammstrecke aufnehmen könnten.

Die acht Gleise des Stuttgart 21-Tiefbahnhofs sollen die 16 Gleise des Kopfbahnhofs ersetzen. Ob ihnen das gelingt, sei mal dahingestellt. Keinesfalls aber sind die acht Gleise des Tiefbahnhofs ausreichend, um auch noch eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn aufnehmen zu können.

Auch der bei Stuttgart 21 geplante neue S-Bahnhaltepunkt Mittnachtstraße hat nichts mit einer zweiten Stammstrecke der S-Bahn zu tun. Als Folge des neuen S-Bahnhaltepunkts Mittnachtstraße fährt kein einziger zusätzlicher S-Bahnzug. Und es wird kein einziger zusätzlicher Sitz- oder Stehplatz bei der S-Bahn angeboten.

Was kann und muss jetzt getan werden, damit trotz Stuttgart 21 der Schienennahverkehr in der Metropolregion Stuttgart noch eine Chance auf Zukunft hat?
In diesem Blog haben wir uns nie damit begnügt, Stuttgart 21 nur zu kritisieren. In jeder Phase von Stuttgart 21 haben wir überlegt, wie man das Schlimmste noch verhindern kann und wie man Stuttgart 21 so abändern kann, dass doch noch ein halbwegs akzeptables Projekt daraus wird.

Das ist auch hier und heute nicht anders.

Und hier sind die Politiker gefragt, beispielhaft der Stuttgarter OB Fritz Kuhn und der Landesverkehrsminister Winfried Hermann.

OB Fritz Kuhn sollte sich wirklich mal überlegen, ob er will, dass seine Amtszeit in Stuttgart nur mit der temporären Schließung des Fernsehturms und mit einem vollkommen misslungenen Feinstaubalarm in Verbindung bleiben wird.

Noch hat OB Fritz Kuhn die Chance, als Gestalter in die Geschichte der Landeshauptstadt Stuttgart einzugehen, als jemand, dem es gelungen ist, das hochproblematische und hochumstrittene Projekt Stuttgart 21 doch noch auf einen halbwegs vernünftigen Pfad zu bringen.

Dazu müssten er und Landesverkehrsminister Hermann jetzt ernsthaft mit der Bahn verhandeln (es ist ok, wenn man zunächst mal abwartet, wer neuer Bahnvorstand wird). Für die Zufahrt Zuffenhausen zum Stuttgarter Hauptbahnhof muss es zwei zusätzliche Gleise geben. Es muss auch im Stuttgarter Hauptbahnhof zusätzliche Gleiskapazitäten geben. Das wird dadurch erreicht, dass neben dem Tiefbahnhof auch noch ein 10gleisiger Kopfbahnhof bereitgestellt wird bzw. erhalten bleibt. In diesen Kopfbahnhof soll es auch zweigleisige Zufahrten von Bad Cannstatt und von der Gäubahn geben.

Die zusätzlichen Kosten für diesen Kombibahnhof werden durch Einsparungen an anderer Stelle wettgemacht. Alle hochproblematischen, betrieblich einengenden und noch nicht begonnenen Teile von Stuttgart 21 werden nicht gebaut, z.B. die Führung der Gäubahn über den Flughafen.

Damit hätten wir in Stuttgart zwar keine zweite Stammstrecke für die S-Bahn, wie das in Leipzig jetzt immer mehr Formen annimmt. Jedoch geben die beiden zusätzlichen Gleise der Zufahrt Zuffenhausen und der Kombibahnhof die Möglichkeit, durch eine Ausweitung der Metropolexpressverkehre so etwas ähnliches zu erhalten wie eine zweite Stammstrecke der S-Bahn. Und das ist mehr als man bisher zu erwarten geglaubt hat. Man wird ja bescheiden!                          
   
         
         
  

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