Sonntag, 5. Juli 2015

Stuttgart 21 - mehr Schaden als Nutzen für die S-Bahn

Stuttgart 21 ist dem Grundsatz nach kein Bahnprojekt. Die Idee zu Stuttgart 21 speiste sich aus anderen Antrieben als einer Verbesserung der Verhältnisse für den Bahnverkehr. Im Nachhinein gab und gibt es zahlreiche Versuche, Stuttgart 21 reinzuwaschen und bahnverkehrliche Gründe für das Projekt anzugeben. Dazu gehört auch, dass Stuttgart 21 Verbesserungen für die Stuttgarter S-Bahn bringe, indem es zum Beispiel Engstellen bei der S-Bahn beseitigt und die S-Bahn entlastet.

Im heutigen Post in diesem Blog wollen wir auf den Argumentationspunkt mit der S-Bahn näher eingehen. Wir werden möglichst genau analysieren, was Stuttgart 21 mit der Stuttgarter S-Bahn macht bzw. nicht macht.

Die Stuttgarter S-Bahn weist heute zahlreiche Engstellen auf. Jede einzelne Engstelle hat für sich allein betrachtet noch keine besonders gravierenden negativen Auswirkungen auf den S-Bahnbetrieb. In der Summe wirken sich diese Engstellen jedoch vielfältig und merkbar auf den S-Bahnbetrieb aus, insbesondere auf die Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit, auf die Fahrzeiten und auf den Freiheitsgrad der Fahrplangestaltung.

Nachfolgend sind die Engstellen im heutigen Netz der S-Bahn aufgelistet:


1. Stammstrecke der S-Bahn mit Taktfolgen von durchschnittlich 2,5 Minuten
2. Strecke zwischen Bad Cannstatt und dem Gleisvorfeld des Kopfbahnhofs mit einem 5 Minuten-Takt für die S-Bahn und Mitbenutzung der S-Bahngleise durch einzelne Regionalzüge.
3. Mischbetrieb S-Bahn / Regionalzüge zwischen Bad Cannstatt und Plochingen
4. Höhengleiche Gleiskreuzung bei Plochingen zwischen der S-Bahn und dem IRE Sigmaringen-Stuttgart
5. Mischbetrieb S-Bahn / Regionalzüge zwischen Plochingen und Wendlingen
6. Höhengleiche Gleiskreuzung S-Bahn / Regionalzüge bei Wendlingen
7. Eingleisiger Streckenabschnitt Wendlingen - Kirchheim/Teck
8. Mischbetrieb S-Bahn / Regionalzüge zwischen S-Rohr und Herrenberg
9. Eingleisiger Streckenabschnitt zwischen Flughafen und Bernhausen
10. Mischbetrieb S-Bahn / Regional- und Fernzüge zwischen Waiblingen und Schorndorf
11. Mischbetrieb S-Bahn / Regionalzüge zwischen Waiblingen und Backnang
12. Eingleisiger Streckenabschnitt zwischen Benningen und Marbach
13. Eingleisige Streckenabschnitte zwischen Marbach und Backnang
14. Eingleisiger Streckenabschnitt zwischen Malmsheim und Weil der Stadt
15. Eingleisiger Streckenabschnitt zwischen Maichingen und Böblingen

Stuttgart 21 beseitigt nur drei von 15 Engstellen der Stuttgarter S-Bahn, erschafft aber sechs zusätzliche Engstellen
Von diesen 15 Engstellen sollen durch das Projekt Stuttgart 21 drei Engstellen beseitigt werden (die Engstellen mit den Nummern 2., 3. und 4.). Das sind gerade mal 20 Prozent der derzeit bestehenden Engstellen bei der S-Bahn. Für ein Projekt, das solche Unsummen kostet wie Stuttgart 21 und das die Region Stuttgart für einen solch langen Zeitraum in Beschlag zu nehmen droht (mindestens 40 Jahre, seit ca.1985 und bis mindestens 2025) ist dies eine verheerende Bilanz.

Es kommt aber noch viel schlimmer. Durch Stuttgart 21 wird es neue Engstellen für die S-Bahn geben, die den drei wegfallenden Engstellen gegenüberzustellen sind. Das sind im einzelnen die folgenden neuen Engstellen.

1N. Höhengleiche Gleiskreuzung bei Plochingen zwischen der S-Bahn Richtung Stuttgart und allen RE von Stuttgart über Plochingen nach Tübingen
2N. Eingleisige Streckenabschnitte zwischen Bernhausen und Neuhausen a.d.F.
3N. Mischbetrieb S-Bahn / Regional- und Fernzüge zwischen S-Rohr und Flughafen
4N. Höhengleiche Gleiskreuzung beim Flughafen zwischen der S-Bahn Richtung Stuttgart und der Gäubahn Richtung Stuttgart.
5N. Höhengleiche Gleiskreuzung bei S-Bad Cannstatt zwischen der S-Bahn Richtung Waiblingen und den Regional-/Fernzügen von Waiblingen über den Untertürkheimer Tunnel zum Hauptbahnhof
6N. Wegfall des Kopfbahnhofs mit seiner overflow-Funktion für die S-Bahn bei  kurzzeitiger Überlastung bzw. Sperrung der Stammstrecke

Stuttgart 21 verhindert nun schon seit 30 Jahren die Beseitigung von Engstellen bei der S-Bahn
Die Bilanz von Stuttgart 21 in Bezug auf die Stuttgarter S-Bahn ist aber noch viel schlimmer als bisher herausgearbeitet. Bereits in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es zum Beispiel massive Forderungen zur Einrichtung eines fünften und möglicherweise auch sechsten Gleises zwischen Bad Cannstatt und dem Hauptbahnhof.
Hätte es das Projekt Stuttgart 21 nicht gegeben, wäre diese Maßnahme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gebaut worden. Dann hätte die S-Bahn zwischen Bad Cannstatt und dem Hauptbahnhof nun bereits seit 20 Jahren separate Gleise ohne Mitbenutzung durch Regionalzüge.

Stuttgart 21 bringt also unter dem Strich nicht nur eine Vergrößerung der Zahl der Engstellen für die S-Bahn. Stuttgart 21 ist auch direkt dafür verantwortlich, dass einige Engstellen der Stuttgarter S-Bahn heute noch bestehen und nicht längst beseitigt sind. Vor diesem Hintergrund sind der oberlehrerhafte Anspruch sowie die Rechtfertigung von Stuttgart 21, dass es gegenüber dem Bestand einige Engstellen der S-Bahn beseitigt, schlichtweg unverschämt.

Die Bilanz von Stuttgart 21 in Bezug auf die Stuttgarter S-Bahn ist aber nicht nur beim Engstellenthema verheerend. Ähnlich verhält es sich beim Thema der Entlastung der (Stammstrecke der) S-Bahn.     

Der neue Haltepunkt Mittnachtstraße führt für viele Fahrgäste zu einer Verlängerung der Fahrzeiten
Der Anspruch von Stuttgart 21, die S-Bahn zu entlasten, speist sich zunächst mal aus dem zusätzlichen S-Bahnhaltepunkt Mittnachtstraße. Dieser Haltepunkt soll im Verlauf der Stammstrecke der S-Bahn zwischen dem Hauptbahnhof und Bad Cannstatt bzw. Feuerbach eingerichtet werden. Der Haltepunkt Mittnachtstraße soll den Haltepunkt Hauptbahnhof entlasten, indem der Übereck-Umsteigeverkehr Bad Cannstatt-Feuerbach zukünftig nicht mehr im Haltepunkt Hauptbahnhof, sondern im Haltepunkt Mittnachtstraße umsteigt.

Sehen wir zunächst mal die Situation aus der Sicht der Fahrgäste an. Für die umsteigenden Fahrgäste der Übereck-Relation Bad Cannstatt - Feuerbach gibt es tatsächlich eine Verkürzung der Beförderungszeiten. Diese Fahrgäste müssen nicht mehr bis zum Hauptbahnhof fahren, sondern können bereits am Haltepunkt Mittnachtstraße umsteigen und sparen sich somit Fahrtstrecke ein. 

Gegenüber den Fahrgästen, die im Verlauf der Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn fahren, sind jedoch die Übereck-Fahrgäste Bad Cannstatt-Feuerbach klar in der Minderheit. Für die Mehrzahl der Fahrgäste - und das sind alle Fahrgäste, die eine von sechs S-Bahnlinien im Verlauf der Stammstrecke benutzen - ergibt sich durch die Haltestelle Mittnachtstraße eine Verlängerung ihrer Fahrzeiten um ca. 2 Minuten pro Richtung. Das ist kein Pappenstiel. Das wird das S-Bahnfahren noch unattraktiver machen. Zudem werden sich durch die Verlängerung der Fahrzeiten bei allen sechs S-Bahnlinien die Umlaufzeiten um jeweils 4 Minuten verlängern. Das kann dazu führen, dass im Verlauf jeder S-Bahnlinie bzw. eines Teils der S-Bahnlinien ein zusätzlicher Zug eingesetzt werden muss. Damit bringt Stuttgart 21 das Kunststück fertig, dass die Stuttgarter S-Bahn nicht nur unattraktiver, sondern gleichzeitig auch teurer wird.

Die Migration der Übereck-Fahrgäste Bad Cannstatt-Feuerbach vom Haltepunkt Hauptbahnhof zum Haltepunkt Mittnachtstraße soll den Effekt bringen, dass sich die Fahrgastwechselzeiten bei der Haltestelle Hauptbahnhof verkürzen, die minimalen Zugfolgezeiten kleiner werden und damit die Verspätungen bei der S-Bahn abnehmen. 

Dieses Ziel ist in Frage zu stellen. Der Vollständigkeit halber sei zunächst noch einmal angemerkt, dass die Zunahme der Engstellen bei der Stuttgarter S-Bahn durch Stuttgart 21 in der Gesamtheit zu einer weiteren Zunahme der Verspätungen bei der S-Bahn führen wird.

Warum hat der Haltepunkt Hauptbahnhof in den ersten Jahren der Stuttgarter S-Bahn gut funktioniert?
Nun ist die Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn seit dem Jahr 1978 in Betrieb. In den ersten 10 Jahren des Bestehens der Stuttgarter S-Bahn gab es beim Haltepunkt Hauptbahnhof nicht die Probleme, die heute thematisiert werden. Was war 1978 anders als heute? Klar, es fuhren damals noch nicht ganz so viele Fahrgäste mit der S-Bahn, wie das heute der Fall ist. Wesentlich wichtiger ist jedoch, dass in den ersten 10 Jahren des Bestehens der Stuttgarter S-Bahn dort Fahrzeuge im Einsatz waren, bei denen der Fahrgastwechsel schneller vonstatten ging als bei den heutigen Fahrzeugen. Es ist ja im öffentlichen Verkehr allgemein die Entwicklung zu beobachten, dass der Fahrtablauf fahrzeugseitig immer langsamer wird. Das lässt sich anschaulich beim Linienbusverkehr z.B. in Stuttgart beobachten.

1. Phase: Es waren Standard-Normalbusse im Einsatz. Die Türen wurden vom Fahrer geöffnet und geschlossen. Das Öffnen konnte bereits während des Bremsvorgangs erfolgen. Das Schließen der Türen konnte beim Anfahren von der Haltestelle stattfinden.

2. Phase: Die Türsteuerung wurde geändert. Die Türen konnten erst geöffnet werden, nachdem der Bus in der Haltestelle angehalten hat. Der Bus konnte erst von der Haltestelle abfahren, nachdem alle Türen geschlossen waren.

3. Phase: Es wurden Standard-Gelenkbusse eingeführt. Die Türen öffneten sich nur nach Tastendruck durch den Fahrgast. Nach dem Fahrgastwechsel vergingen einige Sekunden, bis sich die Türen wieder schließen.

4. Phase: Es wurde ein neues Türüberwachungssystem auf Infrarotbasis eingerichtet. Die Türen öffnen und schließen sich erst dann, wenn der Türbereich vollkommen frei ist. Das führt bei vollen Bussen, die sowieso oft bereits Verspätung haben, dazu, dass sich die Türen oft erst mal gar nicht öffnen bzw. dass sich die Türen nicht schließen und der Bus in der Folge lange Zeit in der Haltestelle verharrt.

Die Verlängerung der Beförderungszeiten beim Linienbusverkehr, die durch die beschriebenen Änderungen eingetreten sind, umfassen enorme Ausmaße. Sie machen den Effekt der millionenschweren Beschleunigungsmaßnahmen zum großen Teil wieder zunichte.

Kommen wir zurück zur S-Bahn. Auch bei den Fahrzeugen der S-Bahn ist eine Entwicklung zu beobachten, wie sie gerade für den Linienbusverkehr beschrieben worden ist. Wer für eine Verbesserung des S-Bahnbetriebs eintritt, muss also konsequenterweise einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, bei dem die Fahrzeugseite eine ganz große Rolle spielt.

Es ist des weiteren in Frage zu stellen, ob die Migration von Fahrgästen vom Haltepunkt Hauptbahnhof zum Haltepunkt Mittnachtstraße beim Haltepunkt Hauptbahnhof zu einer Verkleinerung der Fahrgastwechselzeiten führt. Es werden im Haltepunkt Hauptbahnhof der S-Bahn weiterhin zahlreiche Fahrgäste vorhanden sein. Die Haltepunktsaufenthaltszeiten werden zudem immer mehr von den feststehenden Zeitkomponenten bestimmt, wie sie gerade beim Linienbusverkehr beschrieben worden sind.

Die Entlastung der S-Bahn-Stammstrecke durch Stuttgart 21 ist allenfalls halbherzig
Als weiterer Pluspunkt von Stuttgart 21 wird eine Entlastung der S-Bahn angegeben, indem die Fahrgäste zukünftig vermehrt mit den Regionalzügen anstatt mit der S-Bahn zum Flughafen fahren. Dieser Entlastungseffekt ist gering. Zudem darf dieser Entlastungseffekt nicht für sich allein betrachtet werden. Er ist dem Entlastungseffekt gegenüberzustellen, der sich bei einem etappierbaren Ausbau des Bahnknotens Stuttgart ohne Stuttgart 21 ergeben würde. 

Hier muss man dieselbe Feststellung machen wie weiter oben bei der S-Bahnstrecke Bad Cannstatt-Hauptbahnhof. Ohne Stuttgart 21 wäre bereits in den Neunziger Jahren dieses Jahrhunderts eine wirksame Entlastung der S-Bahn in Betrieb gegangen, die weit über die durch Stuttgart 21 versprochene Entlastung hinausgeht.

Die in diesem Blog bereits vielfach vorgeschlagene Express-S-Bahn vom Kopfbahnhof über S-Vaihingen, Flughafen und Wendlingen nach Plochingen entlastet zusammen mit der Verlängerung der bereits zum Flughafen fahrenden S-Bahnlinien in Richtung Nürtingen-Reutlingen sowie in Richtung Kirchheim/Teck-Göppingen die Stammstrecke der S-Bahn viel mehr als Stuttgart 21. Das hat seinen Grund zunächst einmal darin, dass mit S-Vaihingen und Wendlingen/Plochingen und in geringerem Maße auch Kirchheim/Teck potenziell ganz wichtige Bahnknotenpunkte Bestandteil dieser Entlastungsmaßnahme sind. Diese Punkte fehlen bei Stuttgart 21 vollständig. Die Stuttgart 21-Entlastungsmaßnahme bezieht nur den Flughafen mit ein, nicht aber S-Vaihingen, Plochingen, Wendlingen und Kirchheim/Teck. Sie ist deshalb bei weitem nicht so wirkungsvoll wie die vorgeschlagene Einbindung des Flughafens in ein Express-S-Bahnsystem und seine direkte Anbindung an die fünf Bahnknoten Hauptbahnhof, S-Vaihingen, Plochingen, Nürtingen und Kirchheim/Teck. Auch bei diesem Punkt ist somit Stuttgart 21 im Begriff, eine Entlastung der Stammstrecke der S-Bahn über Jahrzehnte zu verzögern und im Falle einer Fertigstellung nur halbherzig umzusetzen.

Zusammenfassung
Das Großprojekt Stuttgart 21 nimmt - Planung und Bau zusammengenommen - die Region Stuttgart über einen Zeitraum von mindestens 40 Jahren in Beschlag. Stuttgart 21 beseitigt nur drei von 15 wesentlichen Engstellen der Stuttgarter S-Bahn, schafft aber sechs neue, zusätzliche Engstellen. Stuttgart 21 ist zudem für eine über zwanzigjährige Verzögerung bei der Beseitigung von Engstellen bei der S-Bahn verantwortlich zu machen.

Ähnlich verhält es sich bei der Entlastung der Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn. Die Entlastungswirkung durch Stuttgart 21 kommt um Jahrzehnte zu spät. Sie ist nur schwach und halbherzig und könnte durch alternative Maßnahmen wesentlich größer sein.

Stuttgart 21 ist - das zeigen auch die Folgen für die Stuttgarter S-Bahn - der Außenseiter unter den Bahnprojekten in Europa. Dies zu erkennen, hilft ein Blick auf andere große Bahnprojekte, z.B. die Zürcher Durchmesserlinie, die zweite Stammstrecke der Münchner S-Bahn, Crossrail in London, Grand Paris Express in Paris oder der Rhein Ruhr Express Köln-Dortmund. Alle diese und viele andere Bahnprojekte haben eine ganz klare Zielsetzung. Sie sollen massive zusätzliche Kapazitäten für den regionalen Schnellbahnverkehr bereitstellen, die die vorhandenen Einrichtungen entlasten können und darüber hinaus viele neue Fahrgäste aufnehmen können. Dieser Anspruch wird im Zusammenhang mit Stuttgart 21 nicht genannt. Das ist auch kein Wunder. Denn Stuttgart 21 ist ja dem Grundsatz nach kein Bahnprojekt.     


   

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