In den mit großer Wahrscheinlichkeit letzten Tagen der Projekts Stuttgart 21 werden von einigen S21-Fans wieder die alten Angstargumente aus der Mottenkiste geholt. Da wird die Magistrale Paris-Bratislava beschworen. Da spricht CDU-Kauder davon, dass Baden-Württemberg und Stuttgart ohne das Projekt Stuttgart 21 vom Fernverkehr abgehängt würden.
Dem CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder haben wir ja in diesem Blog schon einmal einen Post gewidmet. Denn es besteht bei diesem Politiker der Verdacht, dass er sich in Sachen Stuttgart und Stuttgart 21 wenig bis gar nicht auskennt.
Wir nehmen deshalb heute auf die jüngste Äußerung Kauders Bezug und sehen uns einmal an, welche Veränderungen beim Fernverkehr das Projekt Stuttgart 21 im Vergleich zum Bestand bringen würde. Und hierbei werden wir auf einige Überraschungen stoßen.
Was wird verglichen?
Im Bestand sehen wir uns die morgendliche Spitzenzeit von 6 bis 8 Uhr sowie die nachmittägliche Spitzenzeit von 16 bis 18 Uhr an. Es werden nur diejenigen Fernzüge berücksichtigt, die von Montag bis Freitag verkehren. Fernzüge, die nur am Wochenende verkehren, werden genauso wenig berücksichtigt, wie Fernzüge, die z.B. nur während der Sommerferien verkehren oder die nur an einem oder zwei Werktagen in der Woche verkehren.
Zu Stuttgart 21 sehen wir uns die sogenannten Ergänzenden Betrieblichen Untersuchungen zu Stuttgart 21 an, die auch dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim für sein Urteil zur Gültigkeit des Planfeststellungsbeschlusses für die Talquerung von Stuttgart 21 zur Verfügung gestanden haben. In diesen Untersuchungen werden die bei Stuttgart 21 fahrenden Züge für die gerade und für die ungerade Spitzenstunde dargestellt. Die Addition beider Spitzenstunden kann man dann mit dem heutigen Angebot von 6 bis 8 und von 16 bis 18 Uhr vergleichen.
Die Fernzüge ab Stuttgart fahren zu folgenden Endpunkten: Paris, Zürich, Karlsruhe, Hamburg, Berlin, Nürnberg, Saarbrücken, Köln, München. Selbstverständlich fahren die Fernzüge auch andere Ziele an. Aber all die anderen Ziele können einem Zuglauf zu den oben genannten Endpunkten zugeordnet werden.
Paris
Heute verkehrt im Intervall von 6 bis 8 Uhr und von 16 bis 18 Uhr je ein TGV nach Paris. Bei Stuttgart 21 verkehrt während dieser Intervalle ebenfalls je ein TGV nach Paris. Somit bringt Stuttgart 21 für die Anbindung von Stuttgart an Paris keine Änderungen gegenüber dem Bestand.
Zürich
Heute verkehrt im Intervall von 6 bis 8 Uhr und von 16 bis 18 Uhr je ein Fernzug nach Zürich. Bei Stuttgart 21 verkehrt während dieser Intervalle ebenfalls je ein Fernzug nach Zürich. Somit bringt Stuttgart 21 für die Anbindung von Stuttgart an Zürich keine Änderungen gegenüber dem Bestand. In diesem Zusammenhang sei noch daran erinnert, dass die Bahn mit einer Einstellung der Fernverkehrs zwischen Stuttgart und Zürich liebäugelt.
Karlsruhe
Heute verkehrt im Intervall von 6 bis 8 Uhr ein Fernzug nach Karlsruhe. Im Intervall von 16 bis 18 Uhr verkehren zwei Fernzüge nach Karlsruhe. Bei Stuttgart 21 verkehrt während der Intervalle von 6 bis 8 Uhr und von 16 bis 18 Uhr je ein Fernzug nach Karlsruhe. Somit bringt Stuttgart 21 für die Fernverkehrsanbindung von Stuttgart an Karlsruhe keine Verbesserungen, sondern im Gegenteil tendenziell Verschlechterungen.
Hamburg
Heute verkehrt im Intervall von 6 bis 8 Uhr ein Fernzug nach Hamburg. Im Intervall von 16 bis 18 Uhr verkehren zwei Fernzüge nach Hamburg. Bei Stuttgart 21 verkehrt während der Intervalle von 6 bis 8 Uhr und von 16 bis 18 Uhr je ein Fernzug nach Hamburg. Somit bringt Stuttgart 21 für die Fernverkehrsanbindung von Stuttgart an Hamburg keine Verbesserungen, sondern im Gegenteil tendenziell Verschlechterungen. Zusätzlich zu diesen Direktverbindungen gibt es heute und auch bei Stuttgart 21 weitere Umsteigeverbindungen.
Berlin
Heute verkehrt im Intervall von 6 bis 8 Uhr und im Intervall von 16 bis 18 Uhr je ein durchgehender Fernzug von Stuttgart nach Berlin. Weitere Fahrmöglichkeiten gibt es mit Umsteigen in Mannheim. Bei Stuttgart 21 verkehren in den genannten Intervallen jeweils zwei Fernzüge von Stuttgart nach Berlin. Der zweite Fernzug kommt aus München und erhöht in der Relation Stuttgart-München die Zahl der Züge auf drei pro Stunde und Richtung. Der zusätzliche Zug München-Berlin wird garantiert nicht von Fahrgästen genutzt, die von München nach Berlin fahren wollen. Denn diese Fahrgäste sind wesentlich schneller über Nürnberg unterwegs.
Die Sinnhaftigkeit dieses zusätzlichen Zugs nach Berlin muss deshalb in Frage gestellt werden. Wäre dieser Zuglauf sinnhaft, gäbe es ihn bereits heute, wenigstens ab Stuttgart.
Nürnberg
Heute verkehrt im Intervall von 6 bis 8 Uhr und von 16 bis 18 Uhr je ein Fernzug nach Nürnberg. Bei Stuttgart 21 verkehren während der Intervalle von 6 bis 8 Uhr und von 16 bis 18 Uhr je zwei Fernzüge nach Nürnberg. Jeweils einer der beiden Fernzüge fährt über die Remsbahn, der andere fährt über die Murrbahn. Der zusätzliche, über die Murrbahn fahrende Zug ist die Fortsetzung des von Zürich kommenden Zuglaufs.
Liegt hier also eine Angebotsverbesserung bei Stuttgart 21 vor? Die klare Antwort lautet: nein. Man könnte bereits heute den von Zürich kommenden Fernzug nach Nürnberg verlängern. Der Kopfbahnhof kann dies problemlos leisten. Es hakt jedoch woanders. Die Murrbahn ist heute nicht in der Lage, einen Fernzug aufzunehmen. Die Murrbahn ist zwischen Backnang und Schwäbisch Hall-Hessental nur eingleisig ausgebaut. Es ist heute schon schwierig, die Zugsbegegnungen der Regional- und Güterzüge im Verlauf dieses langen eingleisigen Streckenabschnitts an den geeignten Bahnhöfen zu gestalten. Ein Fernzug, der an den meisten Bahnhöfen im Verlauf der eingleisigen Strecke nicht anhielte, kann heute nicht aufgenommen weden.
Um also einen Fernzug über die Murrbahn nach Nürnberg führen zu können, müsste erst einmal die Murrbahn zumindest auf Abschnitten zweigleisig ausgebaut werden. Mit Stuttgart 21 oder dem Kopfbahnhof hat der Fernzug im Verlauf der Murrbahn somit nicht das geringste zu tun. Heute fährt zweistündlich ein Regionalzug über die Murrbahn nach Nürnberg. Ohne den Ausbau der Murrbahn könnte auch Stuttgart 21 hier kein anderes Angebot bereitstellen.
Nicht vergessen sollte man hierbei auch die Andeutungen, dass die Bahn möglicherweise den gesamten Fernverkehr von Stuttgart nach Nürnberg einstellen will. Das Land müsste dann zwangsweise mit einer IRE-Bestellung in die Bresche springen.
Saarbrücken
Als das Betriebsprogramm für die Spitzenstunde von Stuttgart 21 erstellt wurde, gab es noch die Interregio-Züge. Es gab damals eine zweistündliche Interregio-Verbindung von Stuttgart nach Saarbrücken. Auf diese Verbindung bezieht sich der Fernzug bei Stuttgart 21 im Zeitraum von 6 bis 8 Uhr sowie von 16 bis 18 Uhr.
Nach der Einstellung der Interregio-Züge hat die Bahn den zweistündlichen Zug nach Saarbrücken nur teilweise durch IC-Züge ersetzt. Es gibt jetzt aber ein anderes Angebot, das bei Stuttgart 21 überhaupt nicht vorkommt. Ab Heidelberg werden die IC-Züge zum größeren Teil nicht nach Saarbrücken, sondern über Weinheim, Bensheim und Darmstadt nach Frankfurt geleitet. Die Bahn sieht wohl in dieser Relation mehr Nachfrage als nach Saarbrücken. Wäre Stuttgart 21 gebaut worden, würden die Züge anstatt nach Saarbrücken wohl auch nach Frankfurt fahren.
In Zahlen sieht es wie folgt aus: Zählt man die Relationen Saarbrücken und Darmstadt-Frankfurt zusammen, gibt es heute im Intervall von 6 bis 8 Uhr einen Fernzug und im Intervall von 16 bis 18 Uhr zwei Fernzüge. Bei Stuttgart 21 gibt es in beiden Intervallen je einen Fernzug.
Köln
Von Stuttgart nach Köln gibt es heute zwei Routen. Dazu gehören die Neubaustrecke Frankfurt - Köln sowie die alte Strecke entlang des Rheins. Im heutigen Fahrplan fährt in den Intervallen von 6 bis 8 Uhr und von 16 bis 18 Uhr nur jeweils ein Zug über die Neubaustrecke nach Köln. Zwei Züge fahren über die alte Strecke am Rhein nach Köln. Ein vierter Zug fährt nur bis Mainz. Diesen Zuglauf muss man zur Relation Köln dazuzählen.
Im Betriebsprogramm von Stuttgart 21 gibt es ebenfalls jeweils vier Fernzüge nach Köln in den Intevallen von 6 bis 8 Uhr und von 16 bis 18 Uhr. Über welche Route diese Züge fahren, ist nicht eindeutig ersichtlich. Ich vermute, dass alle vier Züge über die Neubaustrecke fahren sollten.
Nun stellt sich die Frage, ob man dies mit dem bestehenden Kopfbahnhof auch so machen könnte. Selbstverständlich, so lautet die Antwort. Es gibt jedoch einen handfesten Grund, weshalb heute nicht mehr Züge über die Neubaustrecke nach Köln fahren. Es gibt im Verlauf der Verbindung von Stuttgart nach Köln einen ganz gravierenden Engpass. Das sind die beiden Strecken von Mannheim nach Frankfurt. Diese beiden Strecken sind mit den heute dort verkehrenden Fernzügen, Regionalzügen und Güterzügen bereits überlastet.
Um also mehr Züge von Baden-Württemberg nach Köln über die Neubaustrecke Frankfurt-Köln führen zu können, braucht es erst einmal die Neubaustrecke Frankfurt-Mannheim. Diese Strecke ist nicht so sehr wegen der Fahrzeitgewinne, als vielmehr wegen der Leistungssteigerung dringend erforderlich. Und jetzt wird`s fast krimimäßig. Denn ausgerechnet das Projekt Stuttgart 21 droht den Bau dieser dringend erforderlichen Neubaustrecke zu kannibalisieren.
Wir müssen noch einen anderen Grund für die hohe Zugzahl in Richtung Köln über die Neubaustrecke beim Fahrplan für Stuttgart 21 nennen. Dieser Fahrplan wurde erstellt, bevor die Neubaustrecke Köln-Frankfurt in Betrieb ging. Damals war man noch voller Euphorie für die NBS und sagte riesige Fahrgastzahlen und Zugzahlen voraus. Die Prognosen haben sich nicht erfüllt. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass man heute bei einem Fahrpan für S21 nicht mehr so viele Züge über die Neubaustrecke nach Köln schicken würde.
München
Heute verkehren im Intevall von 6 bis 8 Uhr drei Fernzüge nach München. Im Intervall von 16 bis 18 Uhr verkehren vier Fernzüge nach München. Bei Stuttgart 21 verkehren im Intervall von 6 bis 8 Uhr fünf Fernzüge nach München. Im Intervall von 16 bis 18 Uhr verkehren sechs Fernzüge nach München.
Es gibt somit bei Stuttgart 21 einen dritten Fernzug pro Stunde nach München. Das kommt im wesentlichen daher, dass der von Berlin kommende Fernzug nach München durchgebunden wird. Nun muss man sich ernsthaft fragen, ob das heutige Angebot von zwei Fernzügen pro Stunde und Richtung nicht auch der zukünftigen Nachfrage entsprechen kann.
Das zeigt auch ein Vergleich mit der Schnellfahrstrecke von Nürnberg über Ingoldstadt nach München. Im Verlauf dieser Strecke verkehren zwei Fernzüge pro Stunde und Richtung. Für mehr Fernzüge ist anscheinend kein Bedarf vorhanden. Und das, obwohl diese Strecke innerhalb Bayerns liegt und noch etwas kürzere Fahrzeiten aufweist als die Strecke Stuttgart-München mit der NBS Wendlingen-Ulm. Und das, obwohl nördlich von Nürnberg allein drei Fernstrecken zusammenkommen (von Frankfurt, von Hamburg und von Berlin), die dann gemeinsam nach München weitergeführt werden.
Also: Es bestehen Zweifel, ob für drei Fernzüge pro Stunde und Richtung zwischen Stuttgart und München Bedarf ist. Sollte jedoch Bedarf dafür da sein, dann braucht es hierfür nicht die NBS Wendlingen-Ulm und schon gar nicht Stuttgart 21. Dafür geeignet ist ein punktueller, etappierbarer Ausbau des Bahnkorridors Stuttgart-Ulm, der zusätzlich zu den Belangen des Fernverkehrs auch die Belange des Güterverkehrs berücksichtigt.
Fazit
Stuttgart 21 bringt keine Verbesserungen im Fernverkehr für Stuttgart. Die beim Betriebsprogramm für Stuttgart 21 für wenige Relationen vorgesehenen zusätzlichen Fernzüge erfordern den Ausbau der Murrbahn, den Bau der Schnellfahrstrecke Mannheim-Frankfurt sowie punktuelle, etappierbare Ausbaumaßnahmen im Bahnkorridor Stuttgart-Ulm. Andererseits gibt es heute Fernverkehrsverbindungen, die bei Stuttgbart 21 nicht mehr vorkommen. Wären die genannten Ausbauten fertiggestellt, könnte mit dem Kopfbahnhof bereits heute ein wesentlich besseres Betriebsprogramm im Fernverkehr gefahren werden, als es für Stuttgart 21 dargestellt ist.
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