Montag, 16. Juli 2012
Gäubahn-Entscheidung bei Stuttgart 21 kann sich zu neuem Untreue-Fall entwickeln
Wie von vielen Menschen erwartet, haben sich die Projektpartner von Stuttgart 21 nicht an die Empfehlungen der Bürger beim sogenannten Filderdialog zur Führung der Gäubahn gehalten. Anstatt die mehrheitlich bevorzugte Führung der Gäubahn über S-Vaihingen weiterzuverfolgen, haben sich die Projektpartner für eine nur geringfügig geänderte Antragstrasse zur Führung der Gäubahn über Leinfelden und einen neuen Flughafenbahnhof ausgesprochen.
Nun heißt das noch lange nicht, dass diese Trasse tatsächlich irgendwann einmal gebaut wird. Man will ja jetzt erst einmal vertiefte Untersuchungen anstellen. Von einer Einleitung des Planfeststellungsverfahrens oder gar von einem Planfeststellungsbeschluss für diese Trasse ist man noch Lichtjahre entfernt. Und es gibt gute Gründe für die Erwartung, dass es einen Planfeststellungsbeschluss zur Antragstrasse der Bahn für die Gäubahn auf den Fildern nie geben wird.
Trotzdem sind mit dieser Feststellung Minsterpräsident Kretschmann und sein Verkehrsminister Hermann nicht aus dem Schneider. Diese Herren können sich später nicht darauf berufen, dass sie ja schon immer gewusst hätten, dass die Bahn ihre Antragstrasse für die Gäubahn nie in trockene Tücher bringen wird. Nein, das wäre zu einfach. Kretschmann und Hermann müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie nicht auf der besseren, fahrgastfreundlicheren und günstigeren Trasse der Gäubahn über S-Vaihingen bestanden haben. Hätte der baden-württembergische Ministerpräsident auf der Führung der Gäubahn über S-Vaihingen beharrt, wäre sie sofort gebaut worden, ohne dass man noch weitere Jahre bis zum Stopp von Stuttgart 21 hätte warten müssen. Da hätten sich die anderen Projektpartner von S21 noch so sehr auf die Hinterbeine stellen können.
Kretschmann hat aber bekanntlich nicht auf der Führung der Gäubahn über S-Vaihingen bestanden. Das könnte für ihn aber noch Probleme bringen. Denn die Umleitung der Gäubahn über den Flughafen kann ein Fall von Untreue sein - und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Das wollen wir uns nachfolgend im Einzelnen ansehen.
1. Viergleisiger Ausbau der Gäubahntrasse in den Achtziger Jahren
In den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der Abschnitt der Gäubahn zwischen S-Rohr und der Kurve bei S-Dachswald auf einer Länge von 3,5 Kilometern viergleisig ausgebaut. Bestandteil des viergleisigen Ausbaus waren auch der komplette Neubau des Nesenbachviadukts, umfangreiche Geländeeinschnitte zu beiden Seiten des Nesenbachtals sowie ein Verzweigungsbauwerk zwischen der S-Bahn und der Gäubahn bei S-Dachswald.
Eine Führung der Gäubahn über den Flughafen würde die Hälfte dieses noch relativ jungen Streckenausbaus bereits wieder überflüssig machen. Ein hochmodernes Viaduktbauwerk, das locker noch eine Lebensdauer von über 50 Jahren hätte, würde nach einer Betriebsdauer von ca. 30 Jahren bereits wieder abgerissen werden müssen. Anderswo in Deutschland hat die Bahn Mühe, 100 Jahre alte Brückenbauwerke zu ersetzen. Wertvolle viergleisige Infrastruktur wäre nach kurzer Betriebszeit bereits wieder überflüssig.
Wenn Steuergelder dafür ausgegeben werden, dass eine hochmoderne Infrastruktur bereits nach 30 Jahren Betriebszeit wieder rückgebaut werden muss, liegt ein Fall von Untreue vor.
2. Zweigleisige Gäubahntrasse ohne Mischverkehr kontra Mischverkehrstrasse über Leinfelden
Die bestehende Gäubahntrasse über S-Vaihingen ist eine zweigleisige Strecke ohne Mischverkehr mit der S-Bahn. Diese Strecke ist damit hoch leistungsfähig und pünktlich. Sie ist heute noch längst nicht ausgelastet. Bei einer Führung der Gäubahn über den Flughafen würde diese Strecke eingetauscht gegen eine Strecke mit einem Mischverkehr zwischen den Fernbahnen und der S-Bahn, gegen eine Strecke mit mehreren höhengleichen Gleiskreuzungen, gegen eine Strecke mit einer längeren Fahrzeit zum Hauptbahnhof, gegen eine Strecke mit einer geringeren Leistungsfähigkeit (nur Stundentakt möglich an Stelle eines über S-Vaihingen möglichen Halbstundentakts), gegen eine Strecke mit einer wesentlich höheren Verspätungsanfälligkeit und gegen eine Strecke, die von ihrer Trassenbreite her für Fernzüge zu schmal ist.
Bundesweit gilt die Devise, dass der S-Bahnverkehr vom Fernverkehr zu trennen ist. Viele Städte warten jahre- bis jahrzehntelang auf zusätzliche Gleise für die S-Bahn neben den Fernbahngleisen. Nur in Baden-Württemberg scheint wider alle verkehrstechnische Vernunft der gegenteilige Weg, der Weg zurück von einer Trennung der Bahnverkehre zu einem Mischbetrieb eingeschlagen zu werden.
Zusammengefasst kann man hier von einem Rückbau der Bahninfrastruktur sprechen. Wenn aber Steuergelder für einen Rückbau der Infrastruktur ausgegeben werden, wo eigentlich ein Ausbau der Bahninfrastruktur erforderlich ist, liegt ein Fall von Untreue vor.
3. Potenziale des S-Bahnhofs Flughafen
Der bestehende S-Bahnhof unter dem Terminal des Flughafens ist zur Zeit bei weitem nicht ausgelastet. Seine Potenziale sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Zu den Potenzialen des bestehenden S-Bahnhofs unter dem Flughafen gehören die Einrichtung eines ganztägigen 10-Minuten-Takts bei der S-Bahnbedienung und die damit verbundene Reduzierung der durchschnittlichen Reisezeiten (einschließlich Wartezeiten auf den Zug am Bahnsteig). Zu den Potenzialen gehört auch die Einführung von Express-S-Bahnen, die den Flughafen ohne häufige Zwischenhalte schnell an wichtige Umsteigeknoten anbinden. Nicht zuletzt gehört zu den Potenzialen die Streckenanbindung des S-Bahnhofs in beide Richtungen, also die Ergänzung der bisher fehlenden Anbindung in Richtung Osten nach Wendlingen und nach Plochingen.
Nach der Ausschöpfung dieser Potenziale hat der Flughafen eine wesentlich bessere Bahnanbindung als es mit Stuttgart 21 jemals erreicht werden könnte. Anstatt diese Potenziale mit vergleichsweise wenig Kostenaufwand auszuschöpfen, wird bei Stuttgart 21 ein weiterer exorbitant teurer Tunnelbahnhof am Flughafen mit Zulaufstrecken im Tunnel geplant. Würde Stuttgart 21 in Betrieb gehen, wäre die Bahnbindung des Flughafens trotz des exorbitant hohen Bau- und Betriebsaufwands nicht besser als bei der Variante einer Verbesserung des S-Bahnverkehrs.
Wenn Steuergelder in exorbitanter Höhe für den unnötigen Bau eines zweiten Bahnhofs am Flughafen ausgegeben werden, anstatt mit geringem Aufwand die Potenziale des vorhandenen S-Bahnhofs auszuschöpfen, liegt ein Fall von Untreue vor.
4. Potenziale des Bahnhofs Stuttgart-Vaihingen
Mit dem Bahnhof Stuttgart-Vaihingen steht auf den Fildern ein potenzieller Umsteige- und Erschließungsbahnhof bereit, der seinesgleichen sucht. Kein anderer Bahnhof liegt so zentral auf den Fildern, kein anderer Bahnhof hat ein so großes Einzugsgebiet bei den Einwohnern, den Arbeitsplätzen und den Ausbildungsplätzen auf den Fildern. Und bei keinem anderen Bahnhof auf den Fildern kommen heute schon so viele S-Bahnlinien, Stadtbahnlinien und Buslinien zusammen wie beim Bahnhof Stuttgart-Vaihingen.
Mit einem ganz kleinen Investitionsaufwand (Bau eines vierten Bahnsteigs mit Erschließung, Absenkung des ersten Bahnsteigs, Verlegung eines Güterzuggleises) lässt sich der Bahnhof Stuttgart-Vaihingen für seine zukünftigen Aufgaben fit machen. Die Projektpartner von Stuttgart 21 bevorzugen dagegen lieber die Kaltstellung des Bahnhofs Stuttgart-Vaihingen und statt dessen den sündhaft teuren Bau eines zweistöckigen, unterirdischen Bahnhofs beim Flughafen, an einer Stelle, wo niemand wohnt, wo alle potenziellen Fahrgäste erst von weither herangekarrt werden müssen und wo es heute und auch in Zukunft kaum Zubringerlinien geben wird bzw. wo diese Zubringerlinien mit riesigem Folgekostenaufwand erst gebaut werden müssten.
Wenn Steuergelder in exorbitanter Höhe für den Bau eines unterirdischen Umsteigebahnhofs im Niemandsland ausgegeben werden, anstatt mit vergleichsweise winzigem Aufwand einen bestehenden, ideal gelegenen Bahnhof zum Umsteigebahnhof auszubauen, liegt ein Fall von Untreue vor.
Fazit
Die ganze Sache ist brenzlig. Das ist ja nicht nur ein Punkt, der hier mit Untreue und Steuergeldverschwendung in Zusammenhang zu bringen ist. Als allererstes sollte jetzt aber mal der Rechnungshof tätig werden und die zahlreichen Abgründe von Stuttgart 21 einschließlich des neuen Filder-Skandals aufarbeiten. Dann wird man weiter sehen.
Niemand von den bei Stuttgart 21 beteiligten Politikern sollte sich bei der S21-Sache also in Sicherheit wiegen. Auch bei Mappus hat es in der EnBw-Sache relativ lange gedauert, bis die Mühlen der Justiz in die Gänge gekommen sind. Und in Sachen Stuttgart 21 kann es irgendwann auch mal losgehen. Wann das sein wird, wissen die Götter. Es wird uns auf jeden Fall noch manche Überraschung bevorstehen. Armes Baden-Württemberg! Womit haben wir Bürgerinnen und Bürger so eine Politik und solche Politiker verdient? Bei dem, was hier zur Zeit abläuft, reicht es nicht, von einer Politikerkrise oder von einer Politikkrise zu sprechen. Das zeigt schon Anzeichen einer wahrhaften Demokratiekrise.
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