Montag, 13. Juni 2011

Bestehender Kopfbahnhof ohne Ausbau (K20) ist mindestens so leistungsfähig wie Stuttgart 21

In den letzten Wochen hat sich die Diskussion um Stuttgart 21 immer mehr auf das Thema des sogenannten Stresstests und der Leistungsfähigkeit des unterirdischen Durchgangsbahnhofs sowie des bestehenden Kopfbahnhofs konzentriert. Hierzu gab es hochinteressante Veröffentlichungen wie zum Beispiel den Artikel von Dr. Christoph M. Engelhardt in der Zeitschrift Eisenbahn Revue International, Heft 6/2011.

Das Thema ist sehr vielschichtig. Ich möchte hier in diesem Post einige wenige unvollständige Anmerkungen zum Thema machen, die einige in früheren Posts gemachte Feststellungen noch einmal aufgreifen sowie auch einige neue Punkte beinhalten.



1. Zufahrt Zuffenhausen
Die Stuttgart 21 - Protagonisten argumentieren immer mit den acht Zu-/Ablaufgleisen des Tiefbahnhofs gegenüber angeblich nur fünf Zu-/Ablaufgleisen beim bestehenden Kopfbahnhof.

Hierzu habe ich bereits im Post vom 13.09.2010 festgestellt, dass diese Gegenüberstellung fehlerbehaftet ist. Denn maßgebend für die Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 ist die Zufahrt Zuffenhausen (2 Gleise). Über die Zufahrt Zuffenhausen erreichen den Stuttgarter Hauptbahnhof genau die Hälfte aller fahrplanmäßig verkehrenden Züge. Daraus folgt, dass bei Stuttgart 21 für die Hälfte aller fahrplanmäßig verkehrenden Züge nur zwei Zu-/Ablaufgleise zur Verfügung stehen. Und die andere Hälfte der Züge kann sich dann auf die anderen sechs Zu-/ Ablaufgleise verteilen.

Beim bestehenden Kopfbahnhof (K20) stehen aus Richtung Zuffenhausen genauso viele Zu-/Ablaufgleise zur Verfügung wie bei Stuttgart 21. Und bei K20 kommt als Vorteil noch hinzu, dass die Züge aus Richtung Zuffenhausen gegebenenfalls auch noch die beiden Gleise der S-Bahn mitbenutzen können. Dies wäre bei Stuttgart 21 nicht mehr der Fall.  

2. Zufahrt Gäubahn
Die Gäubahn von Böblingen über S-Vaihingen zum Stuttgarter Hauptbahnhof ist zweigleisig. Aber halt: Auf einem kurzen Stück von 640 Metern Länge im Bereich des Nordbahnhofs ist die Gäubahn zur Zeit nur eingleisig. Dies wird von den Stuttgart 21 - Protagonisten immer wieder dahingehend interpretiert, dass für die Gäubahn bei K20 nur ein Zu-/Ablaufgleis angesetzt wird.

Der kurze eingleisige Streckenabschnitt, der ja weit vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof liegt, beeinträchtigt jedoch die zweigleisige Strecke der Gäubahn kaum. Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass ein vom Stuttgarter Hauptbahnhof kommender Zug im Bahnhof stehen bleiben muss, wenn sich ein Zug aus Richtung Böblingen nähert. Vielmehr kann der Zug vom Hauptbahnhof jederzeit abfahren und müsste dann im seltenen Fall einer Zugsbegegnung ggf. zwei Minuten vor dem eingleisigen Streckenabschnitt auf den Gegenzug warten.

Eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit der sonst zweigleisigen Strecke der Gäubahn entsteht durch den kurzen eingleisigen Streckenabschnitt, in dessen Verlauf und in dessen Nachbarschaft sich ja auch kein Bahnhof befindet, nicht. Die Zufahrt der Gäubahn müsste man somit bei K20 mit zwei Gleisen ansetzen. Damit ergeben sich mit den Zufahrten Zuffenhausen, Bad Cannstatt und der Gäubahn bereits 6 Zu-/Abfahrtsgleise zum Kopfbahnhof. Das ist aber noch lange nicht alles.          

3. Zufahrt Bad Cannstatt
In der Zufahrt Bad Cannstatt nutzen ein Teil der Regionalzüge (insbesondere die Züge von und nach Tübingen) heute bei K20 die beiden Gleise der S-Bahn. Das ist bei Stuttgart 21 nicht mehr möglich. Somit müssen für die Zufahrt Bad Cannstatt bei K20 eigentlich mehr als zwei Gleise angesetzt werden, nehmen wir einfach mal an, es sind 2,5 Gleise.  


4. Gleise zum Abstellbahnhof
Viele Züge beginnen und enden in Stuttgart. Diese Züge werden bei K20 vielfach zum Abstellbahnhof Rosenstein geführt bzw. kommen von dort. Für die Zu- und Abfahrt vom und zum Abstellbahnhof Rosenstein stehen zwei separate Gleise zur Verfügung, die über das sogenannte Tunnelgebirge sogar weitgehend kreuzungsfrei mit den anderen Streckengleisen geführt werden.

Die genaue Zahl der vom Abstellbahnhof kommenden bzw. dorthin fahrenden Züge ist mir nicht bekannt. Ich schätze jedoch, dass diese Zugzahl fast der Zahl der Züge entspricht, die über eine der beiden Hauptzufahrten, also Bad Cannstatt oder Zuffenhausen kommen. Somit sind die Gleise, die bei K20 zum Abstellbahnhof führen bzw. von dort kommen, den Streckengleisen gleichwertig. Sie müssen bei der Betrachtung der Gesamtkapazität von K20 zu den Streckengleisen hinzugefügt werden.

Denn auch bei Stuttgart 21 gibt es ja viele Züge, die zum Abstellbahnhof Untertürkheim geführt werden müssen bzw. von dort kommen, wenngleich es nicht ganz so viele sein werden wie zum Abstellbahnhof Rosenstein bei K20. Und für die Züge, die bei Stuttgart 21 zum Abstellbahnhof Untertürkheim geführt werden müssen, stehen zusätzlich zu den 8 Zu-/Ablaufgleisen keine weiteren Gleise zur Verfügung. Vielmehr müssen alle diese Züge auf den auch vom Streckenzugverkehr belegten Gleisen geführt werden.

Somit haben wir also bei Stuttgart 21 insgesamt 8 Zu-/Ablaufgleise für den Linienverkehr und für den Verkehr vom und zum Abstellbahnhof. Bei K20 haben wir 8,5 Gleise (2 Zuffenhausen, 2,5 Bad Cannstatt, 2 Gäubahn, 2 Abstellbahnhof) für den Linienverkehr und für den Verkehr vom und zum Abstellbahnhof.

5. Die Kapazität der Bahnsteiggleise
Die wenigen Gleise im Tiefbahnhof von Stuttgart 21 im Vergleich zum bestehenden Kopfbahnhof wurden von den Stuttgart 21-Protagonisten ja immer damit schöngeredet, dass die Zu-/Ablaufstrecken für die Kapazität entscheidend wären und dass bei einem Durchgangsbahnhof mindestens die doppelte Zugzahl pro Gleis abgefertigt werden könne wie bei einem Kopfbahnhof.

In den Punkten 1 bis 4 haben wir ja gesehen, dass die Argumentation mit den Zu-/Ablaufgleisen ins Leere läuft. Jetzt hat sich durch die neuen Veröffentlichungen auch gezeigt, dass die Behauptung der doppelten Leistungsfähigkeit eines Durchgangsbahnhofgleises im Vergleich zum Kopfbahnhofgleis ebenso unhaltbar ist. Nirgendwo in der Literatur der letzten hundert Jahre wird eine solche doppelte Leistungsfähigkeit bewiesen. Vielmehr zeigen Berechnungen und die Praxis, dass der Faktor des Unterschieds in der Leistungsfähigkeit pro Gleis zwischen einem Kopfbahnhof und einem Durchgangsbahnhof ca. 1,4 ist.   

8 Gleise beim Tiefbahnhof (Durchgangsbahnhof) multipliziert mit 1,4 ergeben 11 Gleise gleicher Gesamtkapazität bei einem Kopfbahnhof. Der bestehende Stuttgarter Kopfbahnhof hat jedoch 17 Gleise.


6. Doppelbelegung von Bahnsteiggleisen
Während des Sach- und Faktenchecks zu Stuttgart 21 hat sich gezeigt, dass der vorgelegte Fahrplan, der ja die im sogenannten Schlichterspruch geforderte Kapazität bei weitem nicht erreicht, bereits mit einer teilweisen Doppelbelegung von Bahnsteiggleisen im Tiefbahnhof arbeitet.

Nun gehört die Doppelbelegung von Bahnsteigen jedoch zum Kundenunfreundlichsten, was sich die Bahn bisher hat einfallen lassen. Ich bin im Hauptbahnhof von Ulm, wo es wegen der viel zu kleinen Zahl der Bahnsteige ebenfalls Doppelbelegungen gibt, einmal in den falschen Zug eingestiegen, obwohl ich mir einbilde, etwas mehr Eisenbahnerfahrung zu haben als vielleicht der durchschnittliche Bundesbürger. Der Grund war, dass einer der beiden Züge am Bahnsteig teilweise in denjenigen Bereich des Bahnsteigs hineingeragt ist, in dem die Bahnsteiginformation den anderen Zug angezeigt hat.

Und was entstehen bei einer Doppelbelegung von Bahnsteigen für lange Wege für die Fahrgäste! Hält zum Beispiel bei Stuttgart 21 ein Zug am Bahnsteigende in der Nähe der Willy-Brandt-Straße, haben die Fahrgäste einige hundert Meter zurückzulegen, um zur S-Bahn zu kommen. 

In Ulm kann man auch beobachten, mit welch langsamer Geschwindigkeit ein Zug in das Bahnsteiggleis einfahren darf, wenn sich dort bereits ein anderer Zug aufhält. Bei Stuttgart 21 mit seinen Schrägbahnsteigen von 1,5 Prozent Gefälle kann man sich lebhaft vorstellen, dass die Züge dort nur mit Schrittgeschwindigkeit einfahren dürfen, wesentlich langsamer als bei K20. Möglicherwiese wird bei Stuttgart 21 das Nachfahren eines Zuges in ein bereits von einem anderen Zug belegtes Bahnsteiggleis wegen des starken Gefälles von den Aufsichtsbehörden auch erst gar nicht genehmigt. Dann würde sich halt bei der Eröffnung des Tiefbahnhofs herausstellen, dass Stuttgart 21 bedauerlicherweise eine noch geringere Leistungsfähigkeit hat.   

7. Zufahrten Köln Hauptbahnhof
Und die Stuttgart 21-Protagonisten streuen weiter Nebelkerzen. Bahnvorstand Kefer sagte, angesprochen auf die Untersuchung von Dr. Christoph M. Engelhardt zum Hauptbahnhof Köln, dass dort die Hohenzollernbrücke einen Engpass darstelle, während bei Stuttgart 21 der Tunnelring (damit meint er die beiden Gleise nach/von Bad Cannstatt sowie die beiden Gleise nach/von Untertürkheim) diese Engpässe erst gar nicht aufkommen lassen.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Hohenzollernbrücke sechsgleisig ist (zwei davon dienen der S-Bahn). Die Zufahrt zum Hauptbahnhof Köln von Westen her (aus Richtung Bonn und aus Richtung Aachen) beinhaltet weitere vier Gleise für den Fernverkehr. Damit hat der Hauptbahnhof Köln genauso viele Zufahrtsgleise wie Stuttgart 21. Und trotzdem bewältigt dieser verspätungsanfällige Bahnhof mit Ach und Krach gerade mal etwas mehr als vier Züge pro Bahnsteiggleis und Stunde. Und Stuttgart 21 müsste, um den sogenannten Stresstest bestehen zu können, weit über 6 Züge pro Bahnsteiggleis und Stunde bewältigen. Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit.
   

8. Zentralbahnhof von Brüssel
Die Untersuchung von Dr. Engelhardt hat gezeigt, dass in Deutschland, Österreich und der Schweiz kein Hauptbahnhof mehr als 4 Züge pro Bahnsteiggleis und Stunde abwickeln kann. Der Stuttgart 21-Tiefbahnhof müsste jedoch mehr als 6 Züge pro Bahnsteiggleis und Stunde abwickeln, um die im sogenannten Stresstest geforderten Vorgaben zu erfüllen.

Auf der weltweiten Suche nach Bahnhöfen, die mehr als 4 Züge pro Bahnsteiggleis und Stunde abwickeln, sind die Stuttgart 21 - Protagonisten nun beim Zentralbahnhof in Brüssel fündig geworden. Dieser unterirdische sechsgleisige Bahnhof in Brüssel befindet sich im Verlauf der stärkstbefahrenen Bahnstrecke der Welt zwischen den Bahnhöfen Brüssel Nord und Brüssel Süd. 

Übersehen wurde bei der Argumentation jedoch, dass beim Zentralbahnhof in Brüssel ein S-Bahnähnlicher Verkehr stattfindet. Die Hochgeschwindigkeitszüge halten beim Zentralbahnhof in Brüssel erst gar nicht an. Und der Zentralbahnhof in Brüssel kann nur deshalb diese große Menge an Zügen durchschleusen, weil der Südbahnhof in Brüssel mit 22 Gleisen und der Nordbahnhof in Brüssel mit 12 Gleisen, die eigentlichen Aufgaben eines Weltstadtbahnhofs übernehmen, wie zum Beispiel Anschlussaufnahme, Verspätungsausgleich etc. Und die Bahnhöfe Brüssel Nord und Brüssel Süd wickeln auch nicht mehr als 4 Züge pro Bahnsteiggleis und Stunde ab.  

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