Mittwoch, 23. Februar 2011

Joe Bauer: S21 ist Dagobertismus und Kasino-Kapitalismus

In diesem und den folgenden Posts soll es um einige städtebauliche Aspekte des Stuttgarter Bonatz-Bahnhofs gehen. Den passenden Anfang macht die Rede von Joe Bauer, dem Kolumnisten der Zeitung Stuttgarter Nachrichten. Joe Bauer hielt diese Rede am 31.Januar 2011 bei der 61. Montagsdemo vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof.


"Meine Damen und Herren, als ich das letzte Mal hier was gesagt habe, befanden wir uns gerade in der Stuttgarter Oktoberrevolte. Inzwischen ist es Januar, frostig, und die Stadt riecht nach Abriss und Landtagswahlkampf. Wahlkampf ist, wenn die Verkehrsministerin Gönner durch ihren Heimatkreis Sigmaringen zieht und ihren Landsleuten weismacht: wenn Stuttgart 21 gebaut wird, sind alle Sigmaringer in 45 Minuten in Stuttgart, wohlgemerkt mit der Eisenbahn und nicht auf einer Kanonenkugel im Ministerpräsidentenformat. Dazu muss ich nichts sagen, es ist wie gesagt Wahlkampf und jedes Land hat die Sarah Palin, die es verdient. 


Wahlkampf wäre auch, ab sofort solidarisch die FDP zu unterstützen, weil Frau Homburgers Organ ganz ähnlich klingt wie die Tröten hier auf dem Arnulf-Klett-Platz. Aber mir geht es nicht um Wahlkampf. Die Eisenbahn wurde nicht nur erfunden, um den Bürgern Land weg zu nehmen und darauf Luxusapartements zu erstellen wie hier auf dem Bahnhofsgelände. Man kann mit der Eisenbahn, wenn sie gerade mal fährt, auch eine günstige Reise machen, zum Beispiel nach Frankfurt am Main, um dort die Paul Bonatz Ausstellung im Architekturmuseum zu besuchen. 


Das habe ich vor zwei Tagen gemacht und weil ich mir nicht anmaße, meine Sicht der Dinge als Maßstab zu nehmen, zitiere ich an dieser Stelle Dieter Bartetzko von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er schreibt über Paul Bonatz und den Stuttgarter Hauptbahnhof: "Zu erkennen, dass die Bauherren von Stuttgart 21 mit diesem einzigartigen Denkmal so ignorant und stumpfsinnig umgehen wie 1928 die fanatischen Funktionalisten, die den Bau als reaktionären Giganten difamierten, bleibt dem Besucher überlassen. Denn nur mit extrem großen Scheuklappen könnte man im Deutschen Architekturmuseum die Verstümmelung des Stuttgarter Hauptbahnhofs als Lappalie abtun". 


Die extrem große Scheuklappe, meine Damen und Herren, ist heute das Symbol der Stuttgarter Stadtplanung. Es passt gut zum Rost im Stadtplan. Was mir in den vergangenen Wochen besonders aufgefallen  ist, sobald man Begriffe wie Historie, Denkmalpflege oder Kulturgeschichte auch nur ganz ausspricht oder hinschreibt, kommen die S21-Befürworter ums Eck und verbreiten die Phrasen, man romantisiere, verkläre, trage die rosarote Brille. Das ist ihre Rechtfertigung für ihre totale Geschichtslosigkeit.


Seltsamerweise erinnern sich die gleichen Leute immer dann an Geschichte, wenn sie sich und uns den Bonatz-Bau als Nazi-Monument zurechtlügen. Nazi geht immer, wenn es um die Diffamierung von Gegnern geht. Das kennen diese Leute vorzugsweise aus dem Fernsehen. Selbstverständlich werden sie den Unsinn vom faschistisch geprägten Baumeister auch wieder verbreiten, wenn sie den Südflügel zertrümmern, dieses Dokument einer Architekturgeschichte, die zurückreicht bis zu den Ägyptern. 


Sie erkennen nicht, was da vor ihnen steht, sondern beurteilen dieses Denkmal mit seiner einzigartigen Dynamik nach ihrem Privatgeschmack. Ein Geschmack, der schlecht ausgebildet ist, sich an den Erkenntnissen von Tourismus und Spesenreisen in sogenannte moderne Großstädte irgendwo in der Welt orientiert. Diese Leute haben nicht das geringste Gefühl und auch nicht den Sachverstand dafür, wie die Stadt Stuttgart ihre Identität, ihren Charakter und ihr Gesicht verliert, wie die Stadt immer mehr zu einem austauschbaren Sammelsurium von Büro- und Wohneinheiten in der Innenstadt verkommt. 


Diese Politiker leiden an ihrem Betonkomplex. Die Methode Stuttgart 21 strahlt längst aus. Bald werden wir erkennen, was an der Paulinenbrücke passiert, in diesem inzwischen zum Geisterviertel mutierten Quartier. Man nennt es jetzt Quartier S und dieser Name ist wie auch die Bezeichnungen Mailänder Platz, Pariser Platz, Da Vinci oder ähnliche Großkotzigkeiten ein Beispiel dafür, wie man einem Ort Identität raubt und die Menschen aus der Stadt herausbaut. 


Man wird die eine oder andere alte Fassade stehen lassen so wie hier am Bahnhof und das ist bezeichnend. Meine Damen und Herren, sie kennen alle den Schriftzug mit dem Hegel-Zitat hier an der Frontseite des Hauptbahnhofs, eine Arbeit und ein Geschenk des amerikanischen Konzeptkünstlern Josep Kosuth. Josep Kosuth hat im Zusammenhang mit Stuttgart 21 Folgendes gesagt, ich zitiere: Selbst wenn etwas nicht vollständig abgerissen wird, so lässt man in der Regel nur die Fassade stehen und baut dahinter praktische Gebäude. Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis. Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren. Dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen lässt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland.


Der Künstler Kosuth sagt uns, es geht den Stadtplanern und Politikern nicht darum, Altes und Neues zu verbinden, wie es große Architekten andernorts vormachen, es geht ihnen nicht darum, Entwicklungen zu erkennen und daraus zu lernen. Deshalb reagieren sie so allergisch, wenn sie das Wort Geschichte hören und ihren dummen Spott über den eigenen Großvater ablassen, sobald man sie an die Erungenschaften der Vergangenheit erinnert. Diese Leute - man findet sie in den Wahlkampfquartieren der Parteien - sind früh vergreist und halten ihre Verbohrtheit für Fortschrittsdenken. 


Albert Einstein, den ich nicht zitiere, weil man ihn auf Kalenderblättern findet, sondern weil er im unglückseligen Ulm gebohren ist - zum Glück bevor dort ein gewisser Herr Gönner am rechten Ufer der Donau sein Unwesen trieb - Albert Einstein hat gesagt, Fortschritt ist der Austausch von Wissen. Bei uns in Stuttgart bedeutet Fortschritt Ignoranz von Geschichte und Wissen. Den Austausch von Wissen haben Politiker durch die Floskel Kommunikation ersetzt - ein anderes Wort für billige Propaganda. 


Euro-Disneyland, das ist die Zukunft, meine Damen und Herren, darauf laufen Projekte wie S21 hinaus. Euro-Disneyland bedeutet Dagobertismus, auch Kasino-Kapitalismus genannt. Euro-Disneyland ist das, was sie meinten, als sie in ihrem Größenwahn vom neuen Herz Europas faselten. So wird Stuttgart ein Allerweltsgebilde aus Shopping-Malls, Appartement- und Bürokomplexen. Da die Betonplaner ja die Zukunft, den Fortschritt und vor allem, wie sie glauben, das Marketing erfunden und gepachtet haben, fragt sich der halbwegs wache Marketing-Mensch: Was wollen sie eigentlich mit ihrer Konfektionsware?        


Soll Euro-Disneyland nun das schaffen, was sie so gern als Marketing bezeichnen?
Sie produzieren keine urbane Marke, keine Alleinstellungsmerkmale, um in ihrem läppischen Sprachgebrauch zu bleiben, sie fabrizieren Wortmüll und Kloruß, über die jeder Grafiker lacht, der einen rechten Winkel in seinem Computer von einem Eierfleck auf seiner Hose unterscheiden kann. 

Meine Damen und Herren, seltsamerweise reagieren die Menschen blitzschnell auf Dinge wie den Dioxinskandal. In meinem Bio-Supermarkt ums Eck gab es prompt keine Eier mehr. Warum aber reagieren viele nicht, wenn man ihr Stuttgart zwar nicht mit Dioxin, sondern mit einer menschenfeindlichen Stadtplanung vergiftet? Da müsste doch der Satz, wonach man einen Menschen mit einer Axt erschlagen kann, in die Zukunft führen. Mit einer gewissen Art Städtebau, mit jenem Fassadismus, den Joseph Kosuth beschreibt, wird man viele Menschen vielleicht nicht erschlagen, aber man wird sie aus ihrer Stadt vertreiben. Denn die Stadtentwicklung schafft die Voraussetzung dafür, wer sich was in Zukunft noch leisten und wo er wohnen und leben kann. 

Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen: Stuttgart, diese einzigartige, liebenswerte Stadt im Kessel unter den Hügeln oder das Quartier XY, diesen betonierten Euro- oder Global-Pudding. 

Meine Damen und Herren, ich bin am Ende meines Vortrags. Gehen Sie bitte nachher pünktlich nach Hause. Sonst wird der Veranstaltungschef hier wieder zu 1.500 Euro Strafe verknackt, weil er selber 20 Minuten zu früh gegangen ist. Allerdings, wenn ich das noch sagen darf, da scheinen mir diese 1.500 Möpse für 20 Minuten gesparte Zeit ein eher günstiger Tarif. Wenn man bedenkt, was wir zahlen und erdulden sollen, um 20 Minuten früher in Herrn Gönners Ulm zu kommen. Da bleiben wir hier in Stuttgart, danke und schönen Abend."

Im nächsten Post geht es weiter um städtebauliche Aspekte im Zusammenhang mit dem Stuttgarter Kopfbahnhof. Dann sind die Bausünden der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts das Thema.            

                         

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