Mittwoch, 23. September 2015

Stuttgart 21 ist veraltet - dem Kombibahnhof gehört die Zukunft

Stuttgart 21 ist veraltet. Das zeigt ein Blick auf die Bahnhofsausbau-Karte in Europa. Für immer mehr Bahnhöfe in Europa gibt es Ausbauprojekte hin zu einem Kombibahnhof, der sowohl die - sehr unterschiedlichen - Bedürfnisse des Fern- und Durchgangsverkehrs als auch des Regional- und Ziel- und Quellverkehrs optimal abdecken kann. Zudem kann nur ein Kombibahnhof die jeweils dringend erforderlichen zusätzlichen Bahnkapazitäten im Bahnhof selbst und bei den Zulaufstrecken bereitstellen. 

Ein Projekt wie Stuttgart 21, das einen bestehenden Bahnhof nicht zu einem Kombibahnhof ausbaut, sondern vollständig stilllegt und durch einen neuen, engen Bahnhof ersetzen will, gibt es in Europa kein zweites Mal. Im Vergleich zu den Kombibahnhofprojekten kann Stuttgart 21 weder bei der Kapazitätsfrage noch beim Thema der optimalen Abdeckung der sehr unterschiedlichen Bedürfnisse von Fern- bzw. Durchgangsverkehr und Regional- bzw. Ziel- und Quellverkehr punkten.   

Das Aus-der-Zeit-Fallen von Stuttgart 21 ist jedoch nicht erst seit heute offensichtlich. Der gemeinsame Vorschlag von Stuttgart 21-Schlichter Heiner Geißler und Alt-CEO der Verkehrsberatungsfirma SMA Werner Stohler aus dem Jahr 2011, gemäß dem auch in Stuttgart an Stelle von Stuttgart 21 ein Kombibahnhof mit vier Durchgangsbahnsteigen und 10 bis 16 Kopfbahnsteigen entstehen solle (Stohler: "dreimal so gut wie Stuttgart 21"), wurde von der Politik in einem Akt der Hilflosigkeit und Trotzigkeit ins Leere geleitet. Bereits vor diesem Zeitpunkt hätten jedoch bei der Politik die Alarmglocken schrillen müssen. So wurde z.B. in der belgischen Stadt Antwerpen bereits im Jahr 1998 mit dem Ausbau des Bahnhofs Antwerpen-Centraal zu einem Kombibahnhof begonnen (Inbetriebnahme 2007). Andere Städte folgten bzw. waren schon früher dran. Ein Schwesterprojekt zu Stuttgart 21 war und ist dagegen nirgendwo in Sicht.


Die Kapazitätsfrage
Überall in Europa scheint es unumstritten zu sein, dass der Bahnverkehr in den Verdichtungsräumen in den kommenden 20 Jahren stark wachsen wird und deshalb die Bahnkapazitäten massiv ausgebaut werden müssen. Überall in Europa? Nein, in Stuttgart und im Zusammenhang mit Stuttgart 21 ist dieses Thema praktisch tabu. 

Stuttgart 21 wird im Vergleich zum bestehenden Zustand kaum Steigerungen der Bahnkapazität für den Bahnknoten Stuttgart bringen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Zufahrt Zuffenhausen zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Diese Zufahrt, über die ca. 40 Prozent der Verkehrs zum Stuttgarter Hauptbahnhof rollt und die heute bereits während des Berufsverkehrs ausgelastet ist, hat nur zwei Gleise für den Fern- und Regionalverkehr. Auch bei Stuttgart 21 wird diese Zufahrt nur zwei Gleise haben. Ein weiteres Beispiel sind die nur 32 Züge pro Stunde, die für Stuttgart 21 nachgewiesen sind - und dieser Nachweis umfasst nur den Hauptbahnhof mit seinen unmittelbaren Zulaufstrecken, nicht jedoch die weiter entfernt vom Hauptbahnhof liegenden Netzteile und Engstellen, wie z.B. die Führung der Gäubahn über den Flughafen, die Wendlinger Kurve, die Plochinger Gleiskreuzungen usw.. 32 Züge pro Stunde kann jedoch bereits das heutige Bahnsystem bewältigen. Es fehlen somit bei Stuttgart 21 eindeutig das klare Bekenntnis und der klare Nachweis zu einem wirklichen Ausbau des Bahnverkehrs.

Das geht anderswo ganz anders. Sehen wir uns mal die Steigerungsrate beim Bahnverkehr beim wichtigsten Bahnhof des englischen Birmingham, Birmingham New Street, an, dessen Modernisierung und Ausbau erst jetzt im September 2015 vorläufig abgeschlossen worden ist (Quelle: englische Wikipedia):
2002/03 - 2013/14: + 144 Prozent

In England steigt die Nachfrage nach Bahnverkehrsleistungen also so stark, dass sie sich innerhalb eines Jahrzehnts mehr als verdoppelt. Entsprechend zahlreich sind die Ausbauplanungen für das englische Bahnnetz einschließlich des Baus von Kombibahnhöfen.

Die Schweiz erwartet bis 2030 vielerorts eine Verdoppelung des Bahnverkehrs
Werfen wir auch mal einen Blick in die Schweiz, das Bahnmusterland in Europa. In einem Artikel der Zeitung "Schweiz am Sonntag" vom 9. Mai 2015 wurden die von den Schweizer Bundesbahnen (SBB) prognostizierten Zuwächse bei den Bahnreisenden für die großen Schweizer Bahnhöfe bis zum Jahr 2030 publik gemacht. So sollen die Reisendenzahlen in den Bahnhöfen Luzern, Basel und Bern um 50 Prozent steigen. Im größten Bahnhof der Schweiz und einem der größten Bahnhöfe der Welt, Zürich, sollen 70 Prozent mehr Fahrgäste ankommen und abfahren. Genf und Lausanne erwarten für ihre Hauptbahnhöfe eine Verdoppelung der Reisendenzahlen. 90 Prozent Zuwachs erwartet die italienische Schweiz mit Lugano und Bellinzona. Dabei setzen diese enormen Zuwächse auf Bestandszahlen auf, die bereits sehr viel höher liegen als z.B. in den deutschen Städten.

Hat jemand mal für den Bahnknoten Stuttgart in den letzten 20 Jahren ähnliche Zahlen, ähnliche Prognosen, ähnliche Bestandsaufnahmen, ähnliche Zielsetzungen gehört oder gelesen? Wahrscheinlich nicht, mir jedenfalls ist nichts Ähnliches bekannt. Das Projekt Stuttgart 21 hat seit über 20 Jahren die Region Stuttgart in eine Art bahnverkehrlichen Tiefschlaf versetzt und alle diejenigen Diskussionen und Prognosen unterbunden, die anderswo selbstverständlich sind.

Fern-/Durchgangsverkehr und Regional-/Ziel-/Quellverkehr haben in Großstadtbahnhöfen vollständig unterschiedliche Bedürfnisse
Die Beliebtheit des Modells Kombibahnhof bei den Bahnausbauplanungen in Europa hat neben der Kapazitätsfrage seinen Grund auch darin, dass Fernverkehr und Regionalverkehr vollkommen unterschiedliche Bedürfnisse und Anforderungen an einen Hauptbahnhof in einem Verdichtungsraum haben.

Der Fernverkehr - in Stuttgart also die Magistrale Paris - Budapest, aber auch die nationale Hauptstrecke Saarbrücken - Mannheim - Stuttgart - München - hat die folgenden Interessen an den Bahnknoten Stuttgart:
  • Der Bahnknoten Stuttgart soll auf kürzest- und schnellstmöglichem Weg durchfahren werden.
  • Es sollen möglichst keine Weichen im abzweigenden Ast befahren werden.
  • Die Aufenthaltszeiten im Hauptbahnhof sollen so kurz wie möglich sein.
  • Es sollen breite und komfortable Bahnsteige zur Verfügung stehen.
  • Fernzüge warten nicht auf andere Züge, auf Fernzüge wird gewartet.
Diese Interessen lassen sich am Besten mit einer Durchmesserlinie für den Fernverkehr abdecken. Diese Durchmesserlinie ist zweigleisig. Die beiden Gleise der Durchmesserlinie kommen zusätzlich zu den bereits bestehenden Zulaufgleisen zum Hauptbahnhof dazu. Der Durchmesserbahnhof wird viergleisig mit breiten Bahnsteigen ausgebildet.

Grundsätzlich erfüllt die von Heiner Geißler und SMA vorgeschlagene Kombilösung diese Anforderungen, auch wenn diese Kombilösung im Detail durchaus Schwächen aufweist. So gibt es zwischen dem bestehenden Tunnel Langes Feld der Schnellfahrstrecke Mannheim-Stuttgart und dem Feuerbacher Tunnel der Kombilösung einen mehrere Kilometer langen Geschwindigkeitseinbruch für die Fernzüge. Die Führung der Fernzüge über den Flughafen und über die Filderhochfläche ist ebenfalls schlecht. Diese Schwächen lassen sich angesichts der fortgeschrittenen Zeit jedoch nicht mehr bereinigen. Es kann jetzt nur noch darum gehen, die Fehlplanung Stuttgart 21 möglichst rasch und reibungslos durch die Kombilösung zu ersetzen.

Der Regionalverkehr hat die folgenden Interessen an den Bahnknoten Stuttgart:
  • Es sollen sehr viele Regionalzüge zum Stuttgarter Hauptbahnhof fahren können.
  • Die Regionalzüge sollen im Hauptbahnhof auch längere Zeit stehen bleiben können, um z.B. Anschlüsse abzuwarten oder um den Taktzeitpunkt für die Rückfahrt abzuwarten.
Diese Interessen lassen sich am Besten mit einem oberirdischen Kopfbahnhof mit bis zu 16 Gleisen lösen. Es wäre viel zu teuer, einen solchen 16gleisigen Bahnhof unter die Erde zu legen. Deshalb befinden sich in Europa die Bahnhöfe für den Regionalverkehr - egal ob jetzt als Kopfbahnhof oder als Durchgangsbahnhof - praktisch immer oberirdisch.

Die von Heiner Geißler und SMA vorgeschlagene Kombilösung erfüllt diese Anforderungen des Regionalverkehrs. Vorgeschlagen wurden 8 bis 10 Gleise im Kopfbahnhof. Das ist jedoch lediglich eine Größenordnung. Man sollte nicht ohne Not auch nur auf ein einziges der bestehenden 16 Gleise des Kopfbahnhofs verzichten. Denn es geht ja auch um das bisherige Tabuthema der massiven zu erwartenden Steigerung der Fahrgastzahlen.

Immer mehr Städte in Europa planen Kombibahnhöfe
Zählen wir kurz die Städte in Europa ohne Anspruch auf Vollständigkeit auf, die bereits einen Kombibahnhof haben bzw. bauen bzw. planen (es gibt sicher noch wesentlich mehr Städte; mir fehlt bei einigen Ländern ein wenig der Überblick)
Zürich (in Betrieb)
Bern (in Planung)
Lausanne (in Planung)
Genf (in Planung)
Luzern (in Planung)
Lugano (in Planung)
Antwerpen (in Betrieb)
Malmö (in Betrieb)
Marseille (in Planung)
Manchester (in Planung)
Birmingham (in Planung)
Sheffield (in Planung)
Leeds (in Planung)
Madrid (in Betrieb)
Bologna (in Betrieb)

Was die Politik jetzt tun muss
Jetzt gilt es für den Bahnknoten Stuttgart, zu retten was noch zu retten ist. Unter Fachleuten ist längst klar: Der Kombibahnhof ist die geeignete Plattform auch für den zukünftigen Bahnknoten Stuttgart. Das gilt sowohl in Bezug auf die Kapazitätsfrage als auch in Bezug auf die Abdeckung der sehr unterschiedlichen Bedürfnisse des Fernverkehrs und des Regionalverkehrs.

Auch der Politik müsste jetzt der Schwenk in Richtung Kombibahnhof gelingen. Immerhin konnte die Politik den Triumph auskosten, trotz europaweit einmalig großer Proteste gegen Stuttgart 21 mit dem Bau dieses Projekts zu beginnen. Dieser Triumph sei der Politik gegönnt. Vor diesem Hintergrund sollte die Politik aber auch die Größe zeigen, jetzt wieder auf eine rein fachlich sachliche Betrachtung des Themas zurückzukommen und mit der Migration von Stuttgart 21 hin zu einem Kombibahnhof zu beginnen.          

         

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