Sonntag, 31. Mai 2015

Die Idee zu Stuttgart 21 kam von Städtebauern und Politikern

Stuttgart 21 ist das einzige große Bahnprojekt in Europa, das nicht von Bahnfachleuten erfunden und vorangetrieben worden ist. Die Idee zu Stuttgart 21 kam von Städtebauern und wurde von Politikern bereitwillig aufgegriffen.

Diese These mag zunächst etwas verwundern. Gilt denn nicht der emeritierte Professor Gerhard Heimerl, ein Bahnfachmann, als der Vater von Stuttgart 21? Heimerl hat in mehreren Interviews zu verstehen gegeben, dass man ihn als den Erfinder der NBS Wendlingen-Ulm betrachten kann, nicht jedoch von Stuttgart 21.

Die Planung von Heimerl für den Bahnknoten Stuttgart sah eine Kombilösung mit einem viergleisigen Durchgangsbahnhof unter dem Stuttgarter Kopfbahnhof vor. Sowohl die NBS Wendlingen-Ulm als auch der Ausbau des Bahnknotens Stuttgart gemäß der Kombilösung sind - wohlwollend betrachtet und mit ein paar Abstrichen - Bahnprojekte im eigentlichen Sinne, geplant von Bahnfachleuten mit dem Ziel, die Eisenbahn leistungsfähiger und attraktiver zu machen.

Selbstverständlich kann man die NBS Wendlingen-Ulm sowie die Kombilösung für den Bahnknoten Stuttgart ganz kontrovers diskutieren. Das wurde und wird in diesem Blog ja auch so gemacht. Jedoch ist dies eine normale Diskussion, wie sie im Umfeld von allen Bahnprojekten in Europa stattfindet.


Die Hauptkritikpunkte zur NBS, wie sie in diesem Blog vielfach vorgetragen worden sind, umfassen zum Beispiel die Steilheit der Strecke mit der Unmöglichkeit, schweren Güterzugverkehr über die Strecke zu führen. Der Scheitelpunkt der NBS ist mit 750 m ü NN um 169 Meter höher als der Scheitelpunkt der Bestandsstrecke bei Amstetten und um 188 Meter höher als der Scheitelpunkt einer ausgebauten Bestandsstrecke einschließlich eines Umfahrungstunnels Geislinger Steige. Die NBS bringt zudem keine Lösung für die Güterverkehrsprobleme im Bahnkorridor Stuttgart-Ulm. Sie verunmöglicht auch einen etappierbaren Ausbau des Bahnkorridors und ist damit bereits verantwortlich für einen Zeitverzug von mindestens 30 Jahren in Bezug auf Verbesserungen beim Bahnkorridor Stuttgart-Ulm. Die NBS ist an der Grenze der Unwirtschaftlichkeit. Sie wird nur durch die Bestellung von Regionalzügen seitens des Landes BW über die Wirtschaftlichkeitsschwelle getragen. Die Bestellung von Regionalzügen für die NBS mit Regionalisierungsmitteln verstößt jedoch gegen das Regionalisierungsgesetz. Denn gemäß diesem Gesetz ist der Verkehr über die NBS mit einem Bahnhofsabstand von über 70 Kilometern kein Schienenpersonennahverkehr. 

Auch zum viergleisigen Durchgangsbahnhof (Kombilösung) für den Bahnknoten Stuttgart wurde hier in diesem Blog vielfach Kritik vorgetragen. So wurde vorgetragen, dass der ICE weder beim Stuttgarter Flughafen noch auf der Filderhochfläche etwas zu suchen hat. Ebenfalls kritisiert wurde, dass die Kombilösung keine Perspektive für den schweren Güterverkehr im Großraum Stuttgart und im Korridor Stuttgart-Ulm bereithält. Bei der Kombilösung wird zudem ein Tunnel quer zum Stuttgarter Talkessel gebaut, der schwere Auswirkungen auf die Entwässerung (Abwasser, Regenwasser), auf das Mineralwasser und auf die Geländegestalt hat. 

Der NBS Wendlingen-Ulm sowie der Kombilösung beim Stuttgarter Hauptbahnhof wurden in diesem Blog vielfach Alternativen gegenübergestellt. Der etappierbare Ausbau des Bahnkorrdidors Stuttgart-Ulm einschließlich eines Umfahrungstunnels Geislinger Steige würde die Probleme des Bahnkorrdidors Stuttgart-Ulm umfassend lösen. Eine Durchmesserlinie gemäß dem Zürcher Vorbild würde den Bahnknoten Stuttgart umfassend modernisieren und leistungsfähiger machen und hierbei allen Zugkategorien von der S-Bahn bis zum ICE Perspektiven aufzeigen.

Wie auch immer: Die NBS Wendlingen-Ulm sowie die Kombilösung für den Bahnknoten Stuttgart sind Bahnprojekte im eigentlichen Wortsinn. Man kann sie ganz kontrovers diskutieren. Man kann ihnen andere Ausbauvarianten gegenüberstellen. Das ändert aber nichts daran, dass diese Projekte letztendlich mit dem ehrlichen Ziel initiiert worden sind, den Bahnverkehr zu modernisieren und zu stärken.

Ganz anders kommt da Stuttgart 21 daher. Dieses Projekt hat zwar etwas mit der Bahn zu tun. Es ist aber kein Bahnprojekt mehr in dem Sinne, dass die Stärkung und das Wohl des Schienenverkehrs hier die entscheidende Rolle spielt. Das kann man an vielen Einzelheiten des Projekts erkennen. Drei Beispiele seien nachfolgend angeführt.

Die Zufahrt Zuffenhausen wird bei Stuttgart 21 nicht ausgebaut
Fangen wir an mit der Zufahrt Zuffenhausen zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Ca. 40 Prozent aller Züge sowie ca. 40 Prozent der Verkehrsnachfrage zum Stuttgarter Hauptbahnhof laufen über die Zufahrt Zuffenhausen. Diese Zufahrt verfügt zur Zeit nur über zwei Gleise für den Regional- und Fernverkehr. Im Dauerlastbetrieb können dort maximal ca. 13 Regional- und Fernzüge pro Stunde und Richtung fahren. Ein Ausbau der Zufahrt Zuffenhausen auf vier Gleise für den Regional- und Fernverkehr ist längst überfällig und wäre auch längst in die Wege geleitet worden, wenn es die Idee Stuttgart 21 nicht gegeben hätte.

Stuttgart 21 hat den viergleisigen Ausbau der Zufahrt Zuffenhausen bereits um ca. 20 Jahre verzögert. Nun ist Stuttgart 21 also in Bau gegangen. Mit einer Bauzeit von 10, wahrscheinlich aber 15 und mehr Jahren und mit Baukosten von 6,4 Mia. Euro, wahrscheinlich aber 10 Mia. Euro wird nun der Bahnknoten Stuttgart neugebaut. Was wäre das Ergebnis, würde Stuttgart 21 fertiggestellt werden? Nach einer Fertigstellung von Stuttgart 21 wäre die Zufahrt Zuffenhausen immer noch nur zweigleisig, könnte für 40 Prozent der Verkehrsnachfrage zum Bahnknoten Stuttgart immer noch nur 13 Züge pro Stunde und Richtung im Dauerlastbetrieb abwickeln. Hier zeigt sich anschaulich die wahre Natur von Stuttgart 21, das alles andere ist als ein bahnförderndes Projekt.

Die unabhängige Gäubahnzufahrt wird zu Gunsten eines Feuerwerks an Engpässen aufgegeben
Kommen wir zum zweiten Beispiel, der Führung der Gäubahn über den Flughafen. Heute verfügt die Gäubahn über eine zweigleisige, unabhängige Zufahrt zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Es gibt im Bereich Nordbahnhof noch ein eingleisiges Stück, das zweigleisig ausgebaut werden kann, ohne dass Grundstücke außerhalb des Bahngeländes in Anspruch genommen werden müssen. Nach diesem Ausbau könnte die Gäubahnzufahrt - wie dies bei den zweigleisigen Zufahrten Zuffenhausen und Bad Cannstatt zum Hauptbahnhof heute der Fall ist - bis zu 13 Fern-/ Regionalzüge pro Stunde und Richtung im Dauerlastbetrieb übernehmen. 

Beim Projekt Stuttgart 21 wird nun jedoch die unabhängige Gäubahnzufahrt aufgegeben. Statt dessen wird die Gäubahn in Richtung Fildertunnel umgeleitet, um sich dort mit den Zügen von Wendlingen zu verflechten. Auf dem Weg dorthin fährt sie durch ein Feuerwerk an Engstellen, die zusammengenommen mit ganz großer Wahrscheinlichkeit die Unfahrbarkeit der Gäubahnführung über den Flughafen ergeben werden. Unter den vielen Engstellen seien nur zwei hervorgehoben: Der Mischbetrieb S-Bahn/Fernbahn/Regionalbahn zwischen Herrenberg und S-Rohr sowie der Mischbetrieb S-Bahn/Fernbahn/Regionalbahn zwischen S-Rohr und Flughafen.

Ein solcher Mischbetrieb auf einer einzigen Strecke ist i.A. beherrschbar. Zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Strecken mit Mischbetrieb, wie es bei einer sogenannten Übereck-Verbindung auftritt, sind praktisch nicht mehr fahrbar. Es gibt konsequenterweise bei den deutschen und europäischen Bahnknotenpunkten solche Übereck-Verbindungen, wie sie mit Stuttgart 21 bei der Rohrer Kurve entstehen würden, so gut wie nicht.

Der Ersatz einer zweigleisigen Zufahrt zum Hauptbahnhof durch eine Übereck-Verbindung mit einem Feuerwerk an Engstellen, wie das bei Stuttgart 21 für die Gäubahn drohen würde, ist ein ganz klares Indiz dafür, dass Stuttgart 21 kein Bahnprojekt ist.

Viele Funktionen eines großen Bahnknotens kann Stuttgart 21 nicht leisten
Gehen wir zum dritten Beispiel. Ein großer Bahnknoten muss viele Funktionen leisten und flexibel sein. Züge aus allen Richtungen müssen im Hauptbahnhof enden, wenden, in Abstellbahnhöfe fahren und wieder zurückfahren können. Züge müssen auch durchgebunden werden können.

Ein großer Bahnknoten muss viele Bahnsteiggleise aufweisen, damit Züge dort auf Anschlüsse warten können. Bei Bedarf müssen viele Züge gleichzeitig im Bahnhof stehen können ("integraler Taktfahrplan"). Der Bahnhof muss auch von Dieselfahrzeugen angefahren werden können. Die Gleisneigung im Bahnhof muss nahe Null sein, damit Züge wenden sowie kuppeln und entkuppeln können. Ein moderner Bahnknotenpunkt muss auch Leistungsreserven ausweisen, damit Wettbewerber der Bahn innerhalb kurzer Zeit eigene Angebote auf die Schiene stellen können und nicht erst jahrelang auf das Freiwerden einer Fahrplantrasse warten müssen.  

Stuttgart 21 kann viele dieser Funktionen nicht leisten. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass Stuttgart 21 kein Bahnprojekt ist.

Warum hat Heimerl Stuttgart 21 unterstützt?
Kommen wir noch einmal zurück zu Prof. em. Heimerl. Er ist nicht der Erfinder von Stuttgart 21. Trotzdem hat er dieses Projekt unterstützt. Warum tat er dies? Möglicherweise sah er in Stuttgart 21 die einzige Möglichkeit, dass seine NBS Wendlingen-Ulm gebaut werden kann. Jedoch kann die NBS auch im Rahmen der Kombilösung gebaut werden. 

Heimerl sagte einmal bei einem Vergleich von Stuttgart 21 mit seinem ursprünglichen Vorschlag für den Bahnknoten Stuttgart (Kombilösung), dass bei der Kombilösung die städtebauliche Komponente (Rosensteinviertel) fehle. Das ist jetzt interessant und gleichzeitig auch tragisch. Heimerl ist ein Bahnfachmann, jedoch kein Städtebauer. Heimerl hat jetzt ein Argument aus dem Gebiet, für das er kein Fachmann ist, den vielen Argumenten aus dem Gebiet, für das er Fachmann ist, vorgezogen. Das muss man als das eigentliche Versagen von Heimerl bezeichnen.

Die Sache ist jedoch noch nicht zu Ende. Es steckt eine doppelte Tragik dahinter. Alle Argumente für die städtebauliche Komponente von Stuttgart 21 sind schon längst widerlegt. Stuttgart 21 bringt dem Städtebau in Stuttgart gar nichts. Im Gegenteil. Stuttgart 21 verhindert den Wohnungsbau auf vielen Flächen gerade jetzt in den Zehner- und Zwanziger Jahren, wenn dieser Wohnungsbau am dringendsten gebraucht wird.

Das Ganze wird auch noch in einer Sackgasse enden. Das Rosensteinviertel kann mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht gebaut werden. Denn Bestandteil eines jeden Bebauungsplans ist der Nachweis der ausreichenden Verkehrserschließung. Ausnahmslos alle Straßen im Umfeld des Rosensteinviertels (Cannstatter Straße, Neckarstraße, Heilmannstraße, Wolframstraße, Hackstraße, Heilbronner Straße, Pragsattel, Siemensstraße, Nordbahnhofstraße) sind jedoch bereits heute hoffnungslos überlastet. Da passt kein einziges Auto zusätzlich hinein. Und die Bewohner des Rosensteinviertels würden auch Autos haben.

Auch in Bezug auf die Feinstaubbelastung ist das Rosensteinviertel ein No Go. Das Rosensteinviertel befindet sich noch innerhalb des Stuttgarter Talkessels. Der Stuttgarter Talkessel hat jedoch bereits heute die höchste Feinstaubbelastung ein Deutschland und in Europa. Jeder Bebauungsplan, der in dieses Abgas-Inferno noch zusätzliche Autos bringt, dürfte somit nichtig sein.

Sollte der Stuttgarter Gemeinderat die Chuzpe haben, trotzdem den Bebauungsplan zum Rosensteinviertel zu beschließen, stehen die Chancen gut, dass dieser Bebauungsplan vor Gericht für ungültig erklärt wird.

Somit ergibt sich auch für die Landeshauptstadt Stuttgart eine doppelte Tragik. Stuttgart ist die einzige Großstadt in Europa, die ihren Hauptbahnhof und Bahnknoten für städtebauliche Träumereien opfert. Und diese städtebaulichen Träumereien werden wohl Solche bleiben.                               

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