Sonntag, 18. Januar 2015

Die Flughafenanbindung von Stuttgart 21 hat Außenseiterstatus in Deutschland

Die im Rahmen des Projekts Stuttgart 21 geplante Anbindung des Stuttgarter Flughafens ist nicht nur die umstrittenste Schienenanbindung eines Flughafens in Europa. Diese Anbindung zeichnet sich auch durch Eigenschaften aus, die es in dieser Form bei keinem anderen Flughafen in Deutschland gibt. Das wollen wir im heutigen Post in diesem Blog näher betrachten. Hierzu sehen wir uns die Anbindung aller 35 Verkehrsflughäfen in Deutschland an.

Die geplante Anbindung des Stuttgarter Flughafens im Rahmen von Stuttgart 21 zeichnet sich durch einige Eigenschaften aus, die merkwürdig sind und die aufhorchen lassen:
  • Als einziger Flughafen in Europa soll für den Stuttgarter Flughafen eine ICE-Strecke über einen Flughafen umgeleitet werden, wobei von dieser Umleitung alle ICE-Züge betroffen sind - auch die erdrückende Mehrzahl der am Flughafen nicht anhaltenden ICE. Diese Umleitung erfolgt sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Hinsicht.
  • Der Stuttgarter Flughafen soll durch eine von der durchgehenden Strecke abzweigende Strecke erschlossen werden, die sich durch eine große Tiefenlage, durch eine nur mit Aufzügen erreichbare, brandschutztechnisch problematische Station sowie durch Kosten auszeichnet, die in Relation zu den Fluggastzahlen wohl weltweit einmalig sind.
  • Um der Flughafenstation mehr Fahrgäste zuzuführen, sollen weitere Bahnlinien über den Flughafen umgeleitet werden - ebenfalls einzigartig in Europa. Dies betrifft die Gäubahn, die Regionalzüge von/nach Tübingen und einige Regionalzüge von/nach Ulm.
  • Die Umleitung der Gäubahn über den Flughafen bringt einen Rückbau der Stuttgarter S-Bahn mit sich, durch die Einrichtung neuer höhengleicher Gleiskreuzungen, durch den Rückbau eines zweigleisigen S-Bahnhofs in einen eingleisigen Bahnhof, sowie durch einen Mischbetrieb zwischen der S-Bahn und den Fern-/Regionalzügen. Auch dies ist in Europa einmalig. Der Normalzustand in den Metropolen Europas ist, dass die Stadtschnellbahnnetze nicht rückgebaut, sondern massiv ausgebaut werden.
Kommen wir nun zu den 35 Verkehrsflughäfen in Deutschland. Bezüglich des Schienenanschlusses lassen sich die Flughäfen in fünf Gruppen (A, B, C, D, E) einteilen. Einige Flughäfen gehören mehreren Gruppen an.


Flughäfen ohne Schienenanschluss (Gruppe A)
20 Verkehrsflughäfen verfügen über keinen Schienenanschluss. Diese Flughäfen sollen hier als Gruppe A bezeichnet werden. Diese Flughäfen sind zum Teil durch Buslinien angeschlossen, die die Verbindung vom Flughafen zur Schiene herstellen. Die folgenden Flughäfen gehören zu dieser Gruppe:
Berlin-Tegel
Braunschweig-Wolfsburg
Dortmund
Frankfurt-Hahn
Heringsdorf
Karlsruhe/Baden-Baden
Kassel-Calden
Magdeburg-Cochstedt
Memmingen
Münster/Osnabrück
Neubrandenburg
Niederrhein
Paderborn/Lippstadt
Rostock-Laage
Saarbrücken
Schwerin-Parchim
Siegerlandflughafen
Stralsund-Barth
Sylt
Zweibrücken

Flughäfen mit Schienenanschluss über eine Stichstrecke (Gruppe B)
Zur Gruppe B gehören diejenigen Flughäfen, die mit einer Stichstrecke (S-Bahn, U-Bahn, Regionalbahn, Straßenbahn) an das Schienennetz angeschlossen sind. Das sind die folgenden 9 Flughäfen:
Berlin-Schönfeld
Bremen
Dresden
Düsseldorf
Erfurt
Hamburg
Hannover
Nürnberg
Stuttgart

Flughäfen mit Schienenanschluss über mehrere Stichstrecken bzw. ein ganzes Netz (Gruppe C)
Die Gruppe C bilden diejenigen Flughäfen, die mehr als eine Schienenanbindung durch S-Bahn, Straßenbahn oder Regionalbahn haben, entweder im Rahmen von zwei oder mehr Stichstrecken zum Flughafen oder dadurch, dass die Flughäfen innerhalb eines Streckennetzes der Schnellbahnen liegen. Das sind 4 Flughäfen:
Frankfurt/Main
Köln/Bonn
Leipzig/Halle
München

Flughäfen, für die ein Fernverkehrsbahnhof bzw. Regionalverkehrsbahnhof an einer Bestandsstrecke gebaut worden ist (Gruppe D)
Zur Gruppe D gehören diejenigen Flughäfen, für die ein Fernverkehrsbahnhof bzw. Regionalverkehrsbahnhof im Verlauf einer bestehenden Bahnstrecke eingerichtet worden ist. Von diesem Bahnhof gibt es ggf. einen Shuttleservice (Bus, H-Bahn) zum Flughafen. Das betrifft 3 Flughäfen:
Düsseldorf (Fern-/ Regionalbahnhof)
Friedrichshafen (Regionalbahnhof)
Lübeck (Regionalbahnhof)

Flughäfen, für die ein neuer Fernverkehrsbahnhof mit neuer Strecke gebaut worden ist (Gruppe E)
Zur Gruppe E gehören diejenigen Flughäfen, für die ein neuer Fernbahnhof mit neuer Strecke gebaut worden ist. Das sind 3 Flughäfen:
Frankfurt/Main
Köln/Bonn
Leipzig/Halle  

Für die bei Stuttgart 21 für den Stuttgarter Flughafen geplante Schienenanbindung müsste man eine neue Gruppe F öffnen. Denn wegen der am Beginn des Artikels genannten fundamentalen Eigenschaften lässt sich diese Art der Schienenanbindung in keine der bestehenden Gruppen A bis E einordnen. Daraus wird der Außenseiterstatus der Schienenanbindung des Stuttgarter Flughafens im Rahmen von Stuttgart 21 ersichtlich.

Um diesen Außenseiterstatus noch besser zu verstehen, ist ein Vergleich der Schienenanbindung des Stuttgarter Flughafens im Rahmen von Stuttgart 21 mit der Gruppe E der Flughäfen nützlich. Das wären dann die drei Flughäfen Frankfurt/Main, Köln/Bonn und Leipzig/Halle.

Kein ICE wird wegen des Flughafens Köln/Bonn umgeleitet
Wenn man hier mal mit dem Flughafen Köln/Bonn anfängt, kommt man zunächst an dem Umstand nicht vorbei, dass die Bahn die Bedienung des Flughafens Köln/Bonn mit Fernzügen im Vergleich zu den Zeiten unmittelbar nach Inbetriebnahme des Flughafenbahnhofs bereits merklich reduziert hat. Das würde wohl auch dem Stuttgarter Flughafen drohen. Allerdings ist das eigentlich gar nicht das heutige Thema. Heute geht es ja vor allem um die Struktur der Schienenanbindung der Flughäfen.

Der wesentliche Unterschied zwischen der Fernverkehrsanbindung des Flughafens Köln/Bonn und der Stuttgart 21-Konzeption der Flughafenanbindung ist, dass die überwältigende Mehrzahl der ICE, die nicht am Flughafen Köln/Bonn halten, wegen des Flughafens keinen Umweg fahren müssen, weder in horizontaler noch in vertikaler Hinsicht. Denn die Schnellfahrstrecke Frankfurt-Köln verläuft zwischen Siegburg und Köln entlang der Bestandsstrecke und gleichzeitig auf kürzestmöglichem Weg. Ganz anders wäre es bei Stuttgart 21. Dort müssen nicht nur die wenigen ICE, die vielleicht am Flughafen halten, einen Umweg fahren. Alle ICE zwischen Stuttgart und München müssen bei Stuttgart 21 einen Umweg fahren - und das gleich in zweifacher oder gar dreifacher Hinsicht. Einmal besteht der Umweg in horizontaler Hinsicht, dann aber auch in vertikaler Hinsicht mit dem unnötigen Anstieg auf die Filderhochfläche. Zum dritten besteht der Umweg bzw. die Erschwernis auch noch darin, dass die ICE im kraftkostenden Fildertunnel fahren müssen.

Die NBS Leipzig-Erfurt würde auch ohne Flughafen Leipzig/Halle dort vorbeiführen
Ein Vergleich mit dem Bahnhof beim Flughafen Leipzig/Halle liefert ähnliche Ergebnisse. Die Schnellfahrstrecke Leipzig - Erfurt würde auch dann genau an der Stelle vorbeifahren, an der heute der Flughafenbahnhof ist, wenn es gar keinen Flughafen Leipzig/Halle geben würde. Denn es ist die kürzeste Linienführung. Die ICE müssen somit wegen des Flughafens keinen Umweg machen. Wenn sie am Flughafen nicht anhalten wollen - und kaum ein ICE wird am Flughafen Leipzig/Halle anhalten - dann fahren sie am Flughafenbahnhof einfach durch.

Kommen wir nun zum Fernverkehrsbahnhof beim Flughafen Frankfurt/Main. Man könnte es sich jetzt ganz einfach machen und sagen, dass bei diesem Flughafen sich ein Umweg der ICE durchaus lohnen würde. Denn dieser riesengroße und fast einzige bedeutende Interkontflughafen Deutschlands hat nun mal einen enormen Zubringerverkehr aus ganz Deutschland. So einfach machen wir es uns heute aber nicht. Es geht nach wie vor um die Struktur der Schienenanbindung der Flughäfen.

Zwei ICE-Linien benutzen die Fahrt über den Frankfurter Flughafenbahnhof als Abkürzung
Es gibt zwei ICE-Linien, die von Stuttgart bzw. von Karlsruhe nach Köln fahren, und die hierbei nur den Flughafenbahnhof Frankfurt, nicht aber den Frankfurter Hauptbahnhof anfahren. Diese Linien machen keinen Umweg über den Flughafen. Im Gegenteil: Durch die Bedienung des Flughafenbahnhofs an Stelle des Hauptbahnhofs verkürzt sich der Linienweg dieser Linien entscheidend. Sie sind somit in der Lage, schneller von Stuttgart bzw. Karlsruhe nach Köln zu kommen.

Durch den Verzicht auf die Bedienung des Frankfurter Hauptbahnhofs seitens dieser beiden ICE-Linien wird jedoch der Frankfurter Hauptbahnhof nicht ins Abseits gestellt. Durch die zentrale Lage von Frankfurt/Main in Deutschland sowie im Fernverkehrsnetz der Bahn gibt es in Frankfurt so viele ICE-Linien, dass genügend Linien für die Bedienung des Frankfurter Hauptbahnhofs übrigbleiben. Wenn man von Stuttgart/Karlsruhe, aber auch von Köln zum Frankfurter Hauptbahnhof will, nimmt man einfach eine andere ICE-Linie.

Könnte dies ein Modell für Stuttgart sein, indem eine ICE-Linie nur noch den Flughafen, nicht aber den Hauptbahnhof anfährt? Die Antwort lautet: Nein. Es gibt in Stuttgart wesentlich weniger ICE-Linien als in Frankfurt. Der Stuttgarter Hauptbahnhof würde somit in den Verkehrsschatten geraten. Alle ICE müssen in Stuttgart den Hauptbahnhof bedienen, nicht aber den Flughafen.

Die Schienenanbindung des Stuttgarter Flughafens sollte von der Gruppe B in die Gruppe C überführt werden
Es spricht somit viel dafür, dass Stuttgart 21 mit seiner geplanten Flughafenanbindung nicht ausgeführt wird. An erster Stelle der Agenda für den Stuttgarter Flughafen sollte stehen, dass dieser Flughafen bezüglich seiner Schienenanbindung von der Gruppe B in die Gruppe C überführt wird, dass also mehr als eine Stichstrecke zum Flughafen geführt wird und dass darüber hinaus der Flughafen in ein erweitertes S-Bahnnetz eingebunden wird.

Die Voraussetzungen für diesen Ausbauschritt sind in Stuttgart ideal. Der bestehende zweigleisige Flughafenbahnhof der Stuttgarter S-Bahn hat riesige verkehrliche und betriebliche Potenziale, die eine Schienenanbindung gemäß Gruppe C ermöglichen, ohne dass ein zweiter, teurer, sicherheitstechnisch problematischer und mit langen Wegen verbundener Flughafenbahnhof gebaut werden muss. Die beiden bestehenden S-Bahnlinien werden entlang der Autobahn A8 als Express-S-Bahnlinien bis Nürtingen (-Reutlingen) und bis Kirchheim/Teck (-Göppingen) verlängert. Es wird zudem eine dritte Express-S-Bahnlinie eingeführt, die vom Hauptbahnhof über Vaihingen, den Flughafen und Wendlingen nach Plochingen führt. In einer ersten Stufe erhielte der Flughafen somit einen 10 Minuten-Takt bei der S-Bahn mit drei Linien und zudem neue Direktverbindungen zu einer Reihe vom Umsteigebahnhöfen. Mit weiteren Gleisausbauten im Raum S-Rohr ließe sich ein 15 Minuten-Takt für alle drei S-Bahnlinien und somit ein resultierender 5 Minuten-Takt der S-Bahn beim Flughafen einrichten. Das ist eine Bedienungsqualität des Flughafens, von der man bei Stuttgart 21 nur träumen kann.

Eine win-win-Situation für den Stuttgarter Flughafen und für die S-Bahn
Die Schienenanbindung des Stuttgarter Flughafens gemäß der Gruppe C stellt darüber hinaus eine win-win-Situation für den Flughafen und für die Stuttgarter S-Bahn dar. Durch diese Anbindung in der Form eines erweiterten S-Bahnnetzes werden auch einige der großen Defizite der Stuttgarter S-Bahn abgemildert. Im Vergleich der Metropolregionen in Europa ist das Stuttgarter S-Bahnnetz unterentwickelt. Dasselbe gilt für die Zahl der Fahrgäste der S-Bahn. Gleichwohl ist die Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn überlastet. 

Die Durchbindung von drei S-Bahnlinien am Stuttgarter Flughafen ist in der Lage, die Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn entscheidend zu entlasten. Zudem wird dadurch das S-Bahnnetz erweitert, gestärkt und für zusätzliche Fahrgäste geöffnet. Das alles erfolgt im Rahmen eines etappierbaren Ausbaus des Bahnknotens Stuttgart. Dieser etappierbare Ausbau bietet sowohl kurzfristig als auch langfristig begeisternde Perspektiven. Kurzfristig deshalb, weil erste Module des etappierbaren Ausbaus bereits lange vor einer geplanten Inbetriebnahme von Stuttgart 21 eröffnet werden können. Langfristig deshalb, weil der etappierbare Ausbau nach oben offen ist, ähnlich wie der Straßenbau kein definiertes Ende hat, und somit alle Möglichkeiten für den Bahnknoten Stuttgart und die Metropolregion Stuttgart offen stehen.   
 
Nun kommen spannende Zeiten auf uns Einwohnerinnen und Einwohner in der Metropolregion Stuttgart zu. Gibt es hier einen oder mehrere mutige, verantwortungsbewusste Politiker, die den Außenseiterstatus der Flughafenanbindung von Stuttgart 21 beenden und die die Metropolregion Stuttgart wieder in die Gemeinschaft der großen Regionen in Europa zurückführen? Oder wird die Metropolregion Stuttgart zum Gespött in Europa, mit einem dummen Außenseiterbahnprojekt, das diese Region auch wirtschaftlich langsam aber sicher gegenüber anderen Regionen zurückwerfen wird? Eine der wichtigsten Weichenstellungen der Nachkriegszeit in der Metropolregion Stuttgart steht also bevor.
       

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