Donnerstag, 19. Juli 2012

Zehntausende Berufspendler müssen bei Stuttgart 21 in den Regionalzügen stehen


Viele Berufspendler bekämen, würde das Projekt Stuttgart 21 verwirklicht werden, zukünftig in den Regionalzügen in Baden-Württemberg keinen Sitzplatz mehr. Das ist eine unmittelbare Folge des viel zu klein dimensionierten Stuttgarter Hauptbahnhofs bei Stuttgart 21. 

Dieser zu klein dimensionierte Bahnhof erfordert es, dass auf allen Regionalzuglinien in Baden-Württemberg die zur Zeit im Einsatz befindlichen Doppelstockwagen mit ihren vielen Sitzplätzen gegen einstöckige Triebzüge mit vielen Türen und Stehplätzen, aber relativ wenigen Sitzplätzen ausgetauscht werden. Die einstöckigen Triebzüge mit ihrem großen Anteil an Türen und Stehplätzen wiederum sind erforderlich, um im Stuttgart 21-Kellerbahnhof eine Haltezeit von maximal zwei Minuten gewährleisten zu können.

Diese Zusammenhänge gehen aus einer Untersuchung zu Stuttgart 21 hervor, die jetzt dank der unermüdlichen und wohl in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft mit dem Bundesverdienstkreuz auszuzeichnenden Arbeit von Dr. Christoph Engelhardt wieder ans Licht der Öffentlichkeit gebracht worden ist.


Die Untersuchung stammt vom verkehrswissenschaftlichen Institut der Universität Stuttgart unter Prof. Heimerl ("Erfinder von Stuttgart 21"). Die aus dem Jahr 1997 stammende Untersuchung mit dem Titel "Stuttgart 21, Ergänzende betriebliche Untersuchungen, Teil 2, Kapazitätsreserven beim geplanten Stuttgarter Hauptbahnhof sowie beim Betriebskonzept von Stuttgart 21" diente unter anderem auch dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim dazu, die Planung von Stuttgart 21 zu rechtfertigen.

Die Fern- und Regionalzüge dürfen im Stuttgart21-Kellerbahnhof nur ganz kurz halten
In der Untersuchung wird ganz klar eine maximale Haltezeit für die Fernzüge und für die Regionalzüge im 8gleisigen Durchgangsbahnhof von zwei Minuten postuliert. Um diese relativ kurze Haltezeit leisten zu können, müssen alle Regionalzuglinien im Stuttgarter Hauptbahnhof durchgebunden werden. Noch wichtiger aber ist, dass gemäß der Heimerl-Untersuchung alle Regionalzuglinien nicht mehr mit Doppelstockwagen bedient werden dürfen. Denn bei den Doppelstockwagen kann eine maximale Haltezeit von zwei Minuten nicht gewährleistet werden. Vielmehr müssen alle Regionalzüge mit dem Triebwagen ET 425 gefahren werden. Das ist ein einstöckiger Triebwagen mit vielen Türen und Stehplätzen, aber vergleichsweise wenigen Sitzplätzen.

Viel weniger Sitzplätze bei Stuttgart 21
Sehen wir uns die konkreten Zahlen einmal näher an. 
1. Doppelstockwagen: Länge eines Wagens über Puffer 26,8 m, Sitzplätze pro Wagen 139, umgerechnet auf eine Länge von 100 Metern ergeben sich somit 518 Sitzplätze
2. Einstöckiger Triebwagen ET 425: Länge eines Zugs über Puffer 67,5 m, Sitzplätze pro Zug 206, umgerechnet auf eine Länge von 100 Metern ergeben sich somit 305 Sitzplätze.

Damit reduziert sich die Zahl der Sitzplätze bei den bei Stuttgart 21 verkehrenden Regionalzügen um 41 Prozent bei gleicher Zuglänge im Vergleich zu den heute verkehrenden Doppelstockzügen (die Länge der Lok bei den Doppelstockzügen braucht hier erst einmal nicht berücksichtigt zu werden, denn die Lok kann auch außerhalb des Bahnsteigs zum Stehen kommen). 

Das ist aber noch nicht alles. Man könnte jetzt ja sagen, dass dann eben die Regionalzüge bei Stuttgart 21 entsprechend länger werden müssen, um wieder dieselbe Anzahl an Sitzplätzen zu erreichen wie bei den Doppelstockzügen. Diese Forderung hat für die Fahrgäste zunächst einmal Nachteile in der Form längerer Wege, die in den Bahnhöfen zurückzulegen sind. Zudem müssten dazu im ganzen Land Dutzende von Bahnsteigen erst verlängert werden. Diese Forderung ist jedoch bei näherer Betrachtung auch aus einem anderen Grund nicht umsetzbar. Denn bei Stuttgart 21 kommt ja in Bezug auf den Kellerbahnhof noch ein weiteres Problem hinzu. Das ist die erforderliche Doppelbelegung von Gleisen bei den Regionalzügen, um überhaut alle Züge einigermaßen durch den Bahnhof zu bekommen.
Doppelstockzug mit vielen Sitzplätzen im Stuttgarter Hauptbahnhof: würde Stuttgart 21 gebaut, gehörten diese Züge der Vergangenheit an. Dann wäre für viele Berufspendler in BW tägliches Stehen in den Zügen angesagt.


Zum Beispiel hat der IRE Stuttgart-Karlsruhe heute fünf Doppelstockwagen. Er könnte bei den heutigen Verhältnissen jederzeit noch mehr Wagen erhalten. Fünf Doppelstockwagen haben 695 Sitzplätze und eine Länge von 134 Metern. Kuppelt man drei einstöckige ET 425 zusammen, erhält man eine Zuglänge von 202,5 Metern. Das ist bereits etwas zu lang, um bei den 400 Meter langen Bahnsteigen des Stuttgart 21-Tiefbahnhofs eine Gleis-Doppelbelegung mit Regionalzügen realisieren zu können. Zwei ET 425 haben 412 Sitzplätze, wesentlich weniger als die 695 Sitzplätze, die heute zur Verfügung stehen. Der Vollständigkeit halber: drei ET 425 haben bei einer wesentlich größeren Zuglänge als heute vorhanden 618 Sitzplätze und damit immer noch weniger Sitzplätze als heute im IRE nach Karlsruhe.
Einstöckiger Triebzug vom Typ ET 425 mit vielen Türen und Stehplätzen, aber wenig Sitzplätzen

Doppelstockzüge sind "Geschenk der Wiedervereinigung"
Als die Doppelstockwagen Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts im Regionalverkehr in BW eingeführt worden sind, bezeichnete sie der damalige BW-Verkehrsminister Hermann Schaufler (CDU) als ein "Geschenk der Wiedervereinigung". Er bezog sich damals darauf, dass es diese Doppelstockwagen in der ehemaligen DDR schon sehr viel länger gegeben hat. Dieselbe CDU hat jetzt keine Bedenken, dass Stuttgart 21 dieses Geschenk den Baden-Württembergern wieder wegnimmt.

Ganz Baden-Württemberg ist betroffen
Doppelstockzüge fahren inzwischen von Stuttgart aus in alle Landesteile, zum Beispiel nach Karlsruhe, nach Heilbronn, nach Tübingen, nach Aalen, nach Ulm, nach Oberschwaben und zum Bodensee und nach Singen. Die Wegnahme der Doppelstockwagen wegen des unterdimensionierten Tiefbahnhofs bei Stuttgart 21 hat also Auswirkungen auf das ganze Land.

Und das betrifft ja nicht nur diejenigen Fahrgäste, die von den Regionen nach Stuttgart fahren oder die durch Stuttgart durchfahren müssen. Davon sind auch die zahlreichen Fahrgäste in den Regionen betroffen, auch wenn ihre Fahrt mit Stuttgart überhaupt nichts zu tun hat. Dazu gehören zum Beispiel die Fahrgäste, die vom Bodensee nach Ulm fahren wollen, oder von Konstanz nach Tübingen fahren wollen, oder von Karlsruhe nach Pforzheim fahren wollen oder von Heilbronn nach Ludwigsburg fahren wollen usw. usw.

Das ist schon eine Tragik. Gerade die Menschen in den Regionen, die von Stuttgart ganz weit weg sind (z.B. Oberschwaben, Hohenlohe) stimmten bei der Volksabstimmung mit Mehrheit mit "Nein", also gegen einen Ausstieg des Landes BW aus der Finanzierung von Stuttgart 21. Die den Ton in der Propaganda für Stuttgart 21 angebende CDU verschwieg diesen Menschen selbstverständlich, dass Stuttgart 21 die Doppelstockzüge auch in ihren Regionen wegnimmt. Damit haben die Menschen in  diesen Regionen für den eisenbahnverkehrlichen Niedergang ihrer Region gestimmt.

Fast alle Menschen in BW müssen für den S21-Grundstückdeal büßen
Das Thema der Doppelstockzüge ist ein Beispiel unter vielen dafür, wie beim Projekt Stuttgart 21 alles dem projektinitiierenden Grundstückdeal untergeordnet werden soll. Damit die Bahn ihre innerstädtischen Grundstücke versilbern kann, müssen sich die Menschen unterordnen. Damit ist Stuttgart 21 gerade das Gegenteil einer Planung, wie sie in einem modernen demokratischen Rechtsstaat eigentlich durchgeführt werden müsste. Eine solche Planung ginge in erster Priorität von den Bedürfnissen der Menschen aus und ordnete dann die Bestandteile eines Ausbauprojekts um diese Bedürfnisse herum an.

Stuttgart 21 macht es gegenteilig. Die Menschen und die Fahrgäste der Bahn sind nur Statisten, deren Bedürfnisse dem Grundstücksdeal nachgeordnet sind. Der Wegfall der Doppelstockzüge im Regionalverkehr und damit die Reduzierung der verfügbaren Sitzplätze, der Wegfall von Anschlussbeziehungen wegen der erforderlichen Durchbindung von Zügen im Hauptbahnhof, die Reduzierung der Zahl der Züge wegen der mangelnden Leistungsfähigkeit des Bahnhofs und des ganzen Bahnsystems, die massive Erhöhung der Fahrpreise wegen der teuren Instandhaltung der langen Tunnel, die Störungs- und Verspätungsanfälligkeit des Systems, die Verlängerung der durchschnittlichen Reisezeiten für alle Baden-Württemberger: das alles und noch vieles mehr sind die Folgen des S21-Grundstücksdeals für die Menschen in BW. 

Das einzig Gute an der Sache ist, dass solche Fehlleistungen wie Stuttgart 21 nachfolgenden Generationen als Anschauungsbeispiel dienen werden. Ich bin überzeugt davon, dass nach dem Stopp von Stuttgart 21 dieses Projekt in vielen Studiengängen zukünftigen Generationen immer wieder als ein Beispiel dafür gezeigt werden wird, wie man (Bahn)Projekte auf keinen Fall angehen darf. 

Aktualisierung vom 06. August 2012
In einem der Foren der Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 wurde fälschlicherweise behauptet, dass hier in diesem Blog der Einsatz von Doppelstockzügen bei Stuttgart 21 wegen zu geringer Tunnelquerschnitte ausgeschlossen worden ist. Das trifft nicht zu. Doppelstock-Regionalzüge, aber auch Doppelstock-TGV können selbstverständlich durch alle DB-Tunnel mit Elektrifizierung einschließlich der Stuttgart 21-Tunnel fahren.

Im vorliegenden Post in diesem Blog geht es um etwas ganz anderes. Hier geht es darum, dass gemäß dem Gutachten des Stuttgart 21-Erfinders Heimerl die Doppelstockzüge zu lange Haltezeiten aufweisen und deshalb wegen des Tiefbahnhof-Engpasses bei Stuttgart 21 nicht eingesetzt werden sollen. Das S21-Betriebskonzept funktioniert demgemäß nur, wenn Züge mit vielen Türen (das heißt: vielen Stehplätzen) eingesetzt werden. 

Würde man den vorliegenden Post dieses Blogs genau durchlesen, käme es nicht zu diesen Missverständnissen. Wir Gegner von Stuttgart 21 bezichtigen die Stuttgart 21-Protagonisten zu Recht, immer wieder die Unwahrheit zu sagen und zu tricksen und zu täuschen. Das verpflichtet uns aber umso mehr, selbst stets bei der Wahrheit zu bleiben. Und nichts schadet dem Widerstand gegen Stuttgart 21 so sehr, wie dass wir selbst Halbwahrheiten und Unwahrheiten verbreiten. Deshalb gefallen mit die jetzt aufgetauchten Gerüchte, dass Doppelstockzüge bei Stuttgart 21 aus technischen Gründen nicht fahren können, überhaupt nicht.

Also: bleiben wir bei der Wahrheit. Dann wird Stuttgart 21 am schnellsten gestoppt. Denn die Wahrheit ist ein Feind von Stuttgart 21.                                           

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