Dienstag, 3. April 2012

Stuttgart 21 erweist der Stuttgarter Innenstadt einen Bärendienst


Geht es nach den Vorstellungen zum Beispiel des ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Oettinger, soll Stuttgart und insbesondere die Stuttgarter Innenstadt durch das Projekt Stuttgart 21 aufgewertet werden. Dann soll es nicht mehr heißen: "Das Beste an Stuttgart ist die Autobahn nach München". 

Durch diesen typisch württembergischen Minderwertigkeitskomplex geblendet, realisieren Oettinger und Gleichgesinnte jedoch nicht, dass Stuttgart 21 in keinster Weise in der Lage ist, die Stuttgarter Innenstadt qualitativ zu verbessern und Stuttgart in eine Liga mit Städten wie München, Zürich, Straßburg oder Wien zu bringen. Im Gegenteil: Stuttgart 21 ist eine städtebauliche Lachnummer. Sollte es verwirklicht werden, reiht es sich ein in die Kette der Stuttgarter Fehlleistungen, wie z.B. die Zerstörung von wichtiger historischer Bausubstanz, die Anlage von Stadtautobahnen im engen Talkessel und das Fehlen jeglicher zukunftsweisender Architektur bei den Neubauten in der Stadt. All diese Dinge haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass Stuttgart keinen besonders guten Ruf bei den Städtebaufachleuten und bei den Politikern in Deutschland und Europa hat. Und diese Dinge haben dazu geführt, dass viele Bürgerinnen und Bürger von Stuttgart sich während ihrer Freizeit und während ihres Urlaubs nach nichts mehr sehnen, als durch intakte, städtebaulich und architektonisch ansprechende Ortschaften und Städte zu gehen.

Dies ist der zweite von vier geplanten Posts in diesem Blog, die sich mit der Frage einer Innenstadterweiterung von Stuttgart befassen. Im ersten Post zu diesem Thema ging es um die Frage, ob die Innenstadt von Stuttgart zu klein ist. Heute soll gezeigt werden, dass das Projekt Stuttgart 21 in keinster Weise in der Lage ist, die Stuttgarter Innenstadt zu vergrößern und zu verbessern. Im dritten Post wird dann ein Vorschlag unterbreitet, wie die Stuttgarter Innenstadt tatsächlich vergrößert und qualitativ verbessert werden kann. Und im vierten Post dieser kleinen Reihe geht es dann um das Erweiterungsgebiet, das in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch die Verlegung des Kopfbahnhofs von der Bolzstraße zum heutigen Arnulf-Klett-Platz entstanden ist. Und hier gilt es einmal zu sehen, wie sich dieses Gebiet heute präsentiert.

Gehen wir gleich mitten rein in die Argumentation mit der Auflistung der drei Hauptgründe, die einem städtebaulichen Erfolg von Stuttgart 21 entgegenstehen.
  • Stuttgart 21 erweitert die bestehende Innenstadt nicht. Die beiden Hauptachsen der Innenstadt in Längsrichtung, die Köngistraße und die Theodor-Heuss-/Lautenschlagerstraße, enden auch bei Stuttgart 21 am Gebäude des Hauptbahnhofs.
  • Bei Stuttgart 21 wird zwischen die bestehende Innenstadt und das Erweiterungsgebiet eine ca. 100 Meter breite und 400 Meter lange Bresche geschlagen, ein zukünftiger Unort, eine unwirtliche Landschaft, weder Stadt noch Platz noch Park.
  • Das Erweiterungsgebiet der Innenstadt wird bei Stuttgart 21 auf der Rückseite des Bahnhofs, auf der B-Seite liegen. Alle Besucher von Stuttgart werden sich weiterhin ausschließlich der bestehenden Innenstadt, der A-Seite, zuwenden.
Gehen wir nun noch etwas näher auf diese drei Hauptargumente ein.

Die Königstraße und die Lautenschlagerstraße enden heute vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Dort enden diese Straßen nicht nur in dem Sinne, dass die mit Königstraße und mit Lautenschlagerstraße benannte Straßenfläche dort endet. Die Straßen enden auch in Bezug auf den Stadtbereich, der aus diesen Straßen einsehbar ist. Steht man in der Königstraße und in der Lautenschlagerstraße und blickt in Richtung Nordosten, findet der Blick am Gebäude des Stuttgarter Hauptbahnhofs seine Grenze. Dahinter hört die Stadt auf, eventuell dahinter noch vorhandene Stadtteile werden nicht wahrgenommen, existieren für den Betrachter nicht.

Mit Stuttgart 21 ändert sich an dieser Situation überhaupt nichts. Auch bei Stuttgart 21 wird der Blick aus der Königstraße und aus der Lautenschlagerstraße am Gebäudeteil des Hauptbahnhofs, der nicht abgerissen werden soll, sein Ende und seine Grenze finden. Da kann ein hinter diesem Gebäude liegender neuer Stadtteil bzw. neuer Innenstadtteil noch so toll sein. Er wird nicht wahrgenommen, er wird nicht mit der bestehenden Innenstadt in Verbindung gebracht, er ist nicht in der Lage, die bestehende Innenstadt zu vergrößern.
Blick von der Königstraße zum Hauptbahnhof: Dort ist das Ende der Königstraße und der Stuttgarter Innenstadt, heute und mit Stuttgart 21.

Blick von der Lautenschlagerstraße zum Hauptbahnhof: dort endet die Lautenschlagerstraße und damit die Innenstadt, heute und mit Stuttgart 21.

Der quer zum Talkessel und damit quer zur Königstraße und zur Lautenschlagerstraße liegende Bahnhofstrog von Stuttgart 21 wird die Stadt mindestens genauso trennen wie die Stadtautobahn im Verlauf der Konrad-Adenauer-Straße. Zwar liegen die Gleise des Bahnhofs von Stuttgart 21 nicht offen da. Sie sind zugedeckt. Über dem Bahnhof entsteht jedoch ein Deckel von gigantischen Ausmaßen. Seine Länge entspricht mindestens der Bahnsteiglänge von 400 Metern. Seine Breite beträgt ca. 100 Meter. 

Dieser Deckel wird an wichtigen Stellen um bis zu 10 Meter über die Geländeoberfläche hinausragen und damit die Stadt auch optisch trennen. Zudem kann man den Deckel allenfalls mit einer Rasenfläche mit ganz dünnem Erdboden versehen. Bäume auf dem Deckel sind nicht möglich. Ein Park wird auf diesem Deckel also nicht entstehen können. Ein Platz in der positiven Bedeutung des Wortes wird auf dem Deckel ebenfalls nicht vorhanden sein. Denn die in engem Abstand auf dem Deckel stehenden Glasöffnungen werden jeden Ansatz eines Platzes zunichte machen. Auch die Größe des Deckels wird Ähnlichkeiten mit einem Platz sofort stornieren. Das gleicht allenfalls dem Roten Platz in Moskau oder dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking (allerdings ohne die dort an den Platzrändern vorhandenen prächtigen Gebäude).

Solche Orte, weder Platz noch Park noch Straße, solche Unorte also, werden von vielen Menschen gemieden. Anziehend sind solche Orte allenfalls für Personengruppen, die ihrerseits oft von der "Mehrheit" in den Innenstädten nicht geduldet werden, zum Beispiel für krachmachende Skateboard-Artisten oder Menschen, die gerne in Gruppen irgendwo lagern. Das wiederum verleitet den durchschnittlichen Innenstadtbesucher erst recht, diesen Platz nicht aufzusuchen.
Die Arbeiten zu Stuttgart 21 sind destruktiver Natur: hier blickt man über den zerstörten Teil des Mittleren Schlossgartens auf den gerade in der Zerstörung begriffenen Südflügel des Kopfbahnhofs. Würde Stuttgart 21 gebaut, würde sich eine ca. 400 mal 100 Meter große Fläche (kein Platz, kein Park, keine Straße, eben eine nicht definierbare Fläche) vom Aufnahmestandort des Bildes bis zur ehemaligen Bundesbahndirektion (das Gebäude mit dem roten Dach hinter dem linken Fahnenmast) erstrecken. Die Breite der Fläche wäre vom Bahnhofsturm (links im Bild) bis zum Gebäude der LBBW (hinter dem rechten Fahnenmast).


Das neue Stadtviertel von Stuttgart 21 ist zudem durch eine sogenannten Rückseitenlage, eine B-Lage gekennzeichnet. Das ist ja keine neue Erkenntnis. Da ist es ausreichend, einmal eine Großstadt mit Durchgangsbahnhof zu besuchen. Nehmen wir als Beispiel Nürnberg. Das Empfangsgebäude des Nürnberger Hauptbahnhofs befindet sich auf der Nordseite der Bahnsteige. Und auf dieser Seite befindet sich auch die Innenstadt von Nürnberg. Alle Besucher von Nürnberg, die am Hauptbahnhof ankommen - ob Gelegenheitsbesucher, Tourist von ferne oder häufiger Besucher - werden den Hauptbahnhof ausschließlich auf der Nordseite verlassen. Auf der Südseite des Hauptbahnhofs, der Rückseite, der B-Seite, befinden sich ebenfalls Stadtteile. Aber kein Besucher wird da hingehen (es sei denn, man hat dort ein ganz bestimmtes Ziel), kein Besucher wird die südlich des Hauptbahnhofs gelegenen Stadtteile zur Innenstadt rechnen.

Nicht anders wird es sich in Stuttgart mit Stuttgart 21 verhalten. Alle Besucher, die beim Hauptbahnhof ankommen, werden den Bahnhof in Richtung der bestehenden Innenstadt, in Richtung Königstraße und Lautenschlagerstraße, in Richtung der Vorderseite, in Richtung der A-Seite, verlassen. Die auf der anderen Seite des Durchgangsbahnhofs gelegenen neuen Stadtteile, die Rückseite, die B-Seite, werden nicht als zur Innenstadt gehörig wahrgenommen, sie werden zum größten Teil nicht einmal bewusst registriert.

Wie verhält es sich nun mit dem geplanten ECE-Einkaufszentrum auf dem A1-Gelände von Stuttgart 21? Dieses Einkaufszentrum wird sich auf der B-Seite, der Rückseite des Durchgangsbahnhofs befinden. Es wird von den Besuchern der Stadt nicht als zur Innenstadt gehörend wahrgenommen werden. Dieses Einkaufszentrum zielt konsequenterweise auch auf eine ganz andere Personengruppe, die mit dem Auto anreist und die wiederum mit der bestehenden Innenstadt nichts am Hut hat. Besucher des ECE-Einkaufszentrums werden jedoch kaum einmal dieses Zentrum verlassen und zu Fuß oder mit der Stadtbahn auch noch die Innenstadt (die A-Seite) besuchen.


Das ECE-Einkaufszentrum trägt somit ebenfalls nicht zu einer Vergrößerung sowie einer Erhöhung der Attraktivität der Stuttgarter Innenstadt bei. Im Gegenteil, es zieht Besucher aus der Innenstadt ab und führt zu einem weiter zunehmenden Kfz-Verkehr in den Talkessel. Wenn schon ein solches Einkaufszentrum, dann hätte man es besser irgendwo außerhalb des Talkessels gebaut.

Fazit: Oettinger und Gleichgesinnte können ihre Träumereien einer Ebenbürtigkeit von Stuttgart mit München als Folge des Projekts Stuttgart 21 beenden. Würde Stuttgart 21 gebaut, werden es spätere Generationen in eine Reihe mit den vielen anderen Fehlleistungen stellen, die in der Vergangenheit dazu geführt haben, dass Leute wie Oettinger heute diese Minderwertigkeitskomplexe haben. Vielleicht können die in Stuttgart und BW für die Stadt- und Verkehrsplanung Verantwortlichen einfach mal Vertreter von München, Frankfurt, Zürich usw. einladen unter dem Motto: "wir können alles, auch aus eigenen Fehlern und von den positiven Beispielen aus anderen Städten lernen". Und vielleicht gelingt es dann, an die Gründerzeit zu Ende des 19. Jahrhunderts anzuknpüpfen, der letzten Epoche, als die Planer noch in der Lage waren, attraktiven Städtebau zu betreiben. 

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