Mittwoch, 1. Februar 2012

Ist Stuttgart 21 für Kretschmann eine Nummer zu groß?

Fassungslos beobachten seit einigen Monaten viele Menschen, wie ein als Stuttgart 21-Gegner angetretener und als solcher in das Amt des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg gewählter Politiker durch Nichtstun und Tollpatschigkeit alle Möglichkeiten, Stuttgart 21 zu stoppen, an sich vorübergleiten lässt.

Viele Menschen halten Kretschmann deshalb inzwischen für einen heimlichen Stuttgart 21- Befürworter, einen Wendehals, für einen CDUler in Grünem Gewand, für jemanden, der um der eigenen Eitelkeit und des Erhalts des neuerungenen Ministerpräsidentenpostens willen das schlechteste Verkehrs- und Stadtplanungsprojekt in der Geschichte Deutschlands durchpauken will.



Meine These ist eine andere. Ich bin der Ansicht, dass das Projekt Stuttgart 21 für Kretschmann schlichtweg eine Nummer zu groß ist, dass er damit überfordert ist. Und diese These will ich hier mit einigen Einzelbeobachtungen begründen.

1. Wahlkampfauftritt zusammen mit Schmid, SPD
In der heißen Phase des Landtagswahlkampfs im März 2011 wurde mit vielen Plakaten für einen Wahlkampfauftritt von Kretschmann auf dem Stuttgarter Schlossplatz geworben. Mehrere Tausend Zuhörer erwarteten von Kretschmann eine klare Position gegen Stuttgart 21 und ein kämpferisches Auftreten gegen das Projekt. Vor Ort blieb dann vielen Zuhörern erst einmal die Spucke weg. Man wusste nicht, ob man gleich weglaufen sollte oder lautstark protestieren sollte. Denn ohne dass es auf den Werbeplakaten angekündigt war, war einer der hartnäckigsten Stuttgart 21-Befürworter, SPD-Schmid, mit von der Partie. Er stand mit Kretschmann auf der Bühne, als ob er der kleine Bruder von Kretschmann oder ein Mitglied der Grünen wäre. 

Diese Idee von Kretschmann, zusammen mit Schmid bei einer Wahlkampfveranstaltung aufzutreten, ignorierte vollständig die Befindlichkeiten in der Stuttgarter Bevölkerung und unter den Gegnern von Stuttgart 21. Das kann eigentlich nur jemandem einfallen, der von diesen Befindlichkeiten und von der Bedeutung des Projekts Stuttgart 21 (Bedeutung im negativen Sinne) nur wenig Ahnung hat. 

2. Teilnahme am Sach- und Faktencheck
Kretschmann nahm teilweise am Sach- und Faktencheck zu Stuttgart 21 unter Heiner Geißler teil. Jedoch kam er nur bei einem einzigen Thema zu einem längeren Wortbeitrag. Er verteidigte die Fauna und Flora auf dem Gleisvorfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Bei einer Aufgabe des Gleisvorfelds würde diese geschützte Fauna und Flora ihres einzigen größeren Lebensraums in der Region Stuttgart beraubt, so war seine Hauptargumentation.

Dieser Sachverhalt ist sicher richtig. Aber die Fauna und Flora auf dem Gleisvorfeld ist nur einer von über 100 Sachverhalten, die gegen Stuttgart 21 sprechen. Und es ist - jetzt mögen mir die Biologen verzeihen - nicht der wichtigste der gegen Stuttgart 21 sprechenden Sachverhalte. Die Top-Themen gegen Stuttgart 21 sind die mangelnde Leistungsfähigkeit, das Schaffen eines Engpasses im Bahnverkehr für die nächsten 100 Jahre, die Gewährleistung der Dominanz des Autoverkehrs für die nächsten 100 Jahre (die Auto-Lobby lässt grüßen), der Bau einer ungeheuer teuren Infrastruktur mit der Folge von höheren Fahrpreisen und weniger Zügen, die Verhinderung von anderweitigen Investitionen in das Bahnnetz mit einem größeren Nutzen-Kosten-Faktor, der stadtplanerisch verheerende Querverlauf des Bahnhofs zum Nesenbachtal mit  erforderlichem Teilabriss des europäischen Denkmals Hauptbahnhof und der Zerstörung eines jahrhundertealten Schlossgartens, die ein mehrfaches über die für Bahnhöfe geltenden Richtlinien geneigten Gleise und Bahnsteige bei gleichzeitiger Doppelbelegung der Gleise, die zu schmalen Bahnsteige als Folge des unzureichenden Platzes zwischen Bahnhofsturm und LBBW-Gebäude, die Eigenschaft von Stuttgart 21 als Alles-Oder-Nichts-Projekt mit der Verunmöglichung einer etappierbaren Umsetzung, der Grundfehler einer angeblichen Notwendigkeit der Anbindung des Flughafens an den ICE-Verkehr, der betriebliche Jahrhundertmurks auf den Fildern, die Nichtberücksichtigung des Wettbewerbs zwischen den Bahnunternehmen zusammen mit der wahrscheinlich nicht zulässigen Stillegung des Gleisvorfelds des Kopfbahnhofs und noch einige wichtige Punkte mehr.

Aber zu allen diesen Themen der obersten Kategorie war von Kretschmann nichts zu hören. Teilweise überließ er diese Themen Boris Palmer oder Winfried Hermann. In der Nachbetrachtung ist man schlauer. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Kretschmann bei diesen Top-Themen gegen Stuttgart 21 einfach nicht sattelfest genug. Unter diesen Umständen kann man aber nicht überzeugend gegen Stuttgart 21 insgesamt auftreten und man ist dann auch innerlich nicht richtig davon überzeugt, dass Stuttgart 21 auf keinen Fall kommen darf.

3. Vorauseilender Gehorsam gegenüber der Bahn
Wie viele Möglichkeiten hätte es für Kretschmann gegeben, nur durch den Vorbehalt einer gründlichen Prüfung von neutraler Seite der Bahn entgegenzutreten? Davon hat er keinen Gebrauch gemacht.

Im Einklang mit anderen Super-Grünen wie z.B. Özdemir oder Wölfle erklärte er sich ganz schnell mit dem Schlichterspruch zu Stuttgart 21 plus einverstanden. "Besser als nichts" so Wölfle oder " Wir werden die Einhaltung des Schlichterspruchs überwachen" so Özdemir. Zu dieser Grünen-Gruppe gehört auch Kretschmann. Peinlich nur, dass die Bahn jetzt gar nichts von Stuttgart 21 plus umsetzen will und dass diese Super-Grünen nicht im Traum auf die Idee kommen, die Bahn deshalb zu maßregeln.

Stuttgart 21 kann nur noch durch ein Wunder scheitern, so war eine weitere Äußerung Kretschmanns schon lange vor der Volksabstimmung. Auf Wunder hoffen stets diejenigen Leute, die die Fakten nicht kennen. Alte Völker glaubten, in der Welt rund um sie herum wären lauter Götter, Dämonen und eben Wunder. Das kann man diesen Völkern nicht verübeln. Sie hatten noch nicht die naturwissenschaftlichen Kenntnisse, um die Ursache der verschiedenen Phänomene erklären zu können. Aber anscheindend gibt es auch in der heutigen aufgeklärten Zeit noch Zeitgenossen, die fehlendes Faktenwissen durch Wunderglauben ersetzen müssen.

Nur wenige Minuten nachdem die Bahn selbstherrlich bekanntgab, den selbstgemachten Stresstest zu Stuttgart 21 bestanden zu haben, erkannte Kretschmann diesen Stresstest ohne Wenn und Aber an. Auf die Idee, den vielfach vorhandenen Hinweisen auf einen nicht bestandenen Stresstest nachzugehen und weitere - wirklich unabhängige und neutrale - Gutachter (z.B. aus dem Ausland) zu beauftragen, kam er nicht. Lediglich Boris Palmer von den Grünen hielt gegen Kretschmann die Stellung und wies das Nichtbestehen des Stresstests nach.  Später wurden dann von weiteren Experten Dutzende Unstimmigkeiten im Stresstest nachgewiesen.

4. Kretschmann sieht bei Stuttgart 21 mehrere Wahrheiten
Bald nach der Regierungsbildung in BW fand auf dem Stuttgarter Marktplatz eine sogenannte Volksversammlung statt, deren Gast Kretschmann war. Kretschmann antwortete hierbei auf die Frage eines Bürgers, weshalb er den von der S21-Befürworterseite verbreiteten Unwahrheiten nicht stärker entgegentrete, dass es keine absolute Wahrheit gebe, auch bei Stuttgart 21 nicht. Für jedes Gutachten gäbe es sofort ein Gegengutachten.

Nun kann man den Wahrheitsbegriff vielleicht so interpretieren, wenn man einen Lehrstuhl für Philosophie innehat. Aber doch nicht als Politiker. Als Politiker hat man Überzeugungen und Wahrheiten und tritt für diese ein. Wenn es bei Stuttgart 21 keine absolute Wahrheit gibt, dann gibt es garantiert auch bei der Atomkraft keine absolute Wahrheit. Dann könnten die Grünen doch den Atomausstieg wieder rückgängig machen. Denn die Richtigkeit des Ausstiegs wird doch bestimmt gleich durch ein Gegengutachten widerlegt.

Diese Auffassung von Kretschmann bedeutet doch das Ende der Politik. Aber auch hier steckt wohl etwas anderes dahinter, nämlich eine Unsicherheit. Es kommt einem so vor, als wäre Kretschmann gecoacht worden. Wenn er sich zu einem Sachverhalt inhaltlich nicht äußern könne, so hat ihm wahrscheinlich sein Coach gesagt, dann solle er doch bitte auf die Relativität jeder Wahrheit verweisen. Das beeindruckt bestimmte Kreise der Bevölkerung und lenkt von Defiziten ab.   

5. Lückenhafte Information der Bevölkerung über die Argumente gegen Stuttgart 21
Dann wurde die Bevölkerung im Vorfeld der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 nicht richtig und vor allem nicht vollständig über das Projekt informiert. Dafür ist ebenfalls zunächst einmal Kretschmann verantwortlich zu machen. Die Broschüre der Landesregierung BW zur Volksabstimmung wurde zu spät an die Haushalte verteilt. Da hatten viele Briefwähler bereits ihre Stimme abgegeben. Dieser Punkt ist auch Gegenstand einer der juristischen Klagen, die jetzt gegen die Volksabstimmung anhängig sind.

Schwerer wiegt jedoch, dass die Bevölkerung in der Broschüre bei weitem nicht über alle Argumente gegen Stuttgart 21 informiert worden ist. Wenn der Regierungspartner SPD Probleme gehabt hat, 10 Punkte für Stuttgart 21 zusammenzubekommen, heißt dies noch lange nicht, dass sich die Grünen dann ebenfalls auf 10 Punkte gegen Stuttgart 21 beschränken müssen. Die Bevölkerung muss vollständig informiert werden, wenns sein muss, mit 100 Punkten gegen Stuttgart 21. Viele der weiter oben bereits genannten Punkte gegen Stuttgart 21 werden in der Broschüre nicht genannt. Auch die ganzen städtebaulichen, betrieblichen und bautechnischen Argumente, die sich auf Stuttgart sowie auf die Fildern beziehen, werden nicht genannt. Ach so: bei der Abstimmung ging es nur um den Landesanteil an Stuttgart 21, weshalb diese Punkte für die Volksabstimmung unerheblich sind? Aber weshalb wird dann jetzt im Nachhinein die Volksabstimmung von den Grünen so dargestellt, als ob es doch nicht nur um den Landesanteil, sondern um das Projekt als solches gegangen ist? 

6. Rede bei S21-Demo 
Und jetzt mag man noch einwenden, dass Kretschmann bei der 39. Montagsdemo doch eine wunderbare Rede gegen Stuttgart 21 gehalten hat, in der er die Abgründe dieses Projekts sehr wohl ausgelotet hat. Na ja, Reden kann man sich auch schreiben lassen, auch wenn man noch nicht Ministerpräsident ist. 

Tja, Stuttgart 21 ist eben mehr als zum Beispiel die B 313-Umgehungsstraße von Sigmaringen-Laiz. Stuttgart 21 ist auch mehr als nur ein Bahnhof. Aber diesen Irrglauben, dass Stuttgart 21 eine lokal begrenzte Angelegenheit und ein eigentlich unwichtiges Vorhaben ist, haben auch viele Reporter oder Analysten, die sich zum Schreiben von Kommentaren zum Stuttgart 21-Widerstand berufen fühlen und die vor allem eine Gemeinsamkeit haben, dass sie nämlich mehrere hundert Kilometer von Stuttgart entfernt leben.

Es müsste doch dem einen oder anderen Grünen klar sein, dass mit dieser Vorstellung zu Stuttgart 21, wie sie Kretschmann abliefert, zukünftig kein Blumentopf mehr zu gewinnen sein wird. Da ist eine Umkehr dringend erforderlich. Das muss nicht unbedingt gleich den Rücktritt Kretschmanns bedeuten. Man könnte vielleicht einmal den Versuch starten - so in der Art eines Abendgymnasiums - Kretschmann über Stuttgart 21 und alle relevanten zugehörigen Sachverhalte gründlich zu unterrichten, vielleicht nach dem Motto: Fakten statt Wunder.             

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