Freitag, 1. Juli 2011

Die Sehnsucht nach dem Prestigeprojekt

Es ist auf den ersten Blick kaum nachvollziehbar, wie bereitwillig sich große Teil der Politik in Baden-Württemberg auf das Projekt Stuttgart 21 gestürzt haben und wie schwer es diesen Teilen der Politik fällt, sich von Stuttgart 21 wieder zu verabschieden. Dabei ist die ganze Sache gleich zweifach merkwürdig. 



Zum einen, weil es sich bei Stuttgart 21 ja gar nicht um ein Prestigeprojekt handelt. Ein Prestigeprojekt sieht anders aus. Wäre Stuttgart 21 ein Prestigeprojekt im wirklichen Wortsinn, gäbe es dagegen wohl weit weniger Widerstand. Ein Prestigeprojekt wäre Stuttgart 21 etwa dann, wenn Stuttgart einen neuen Bahnhof bekäme, der mindestens doppelt und besser noch dreimal so leistungsfähig ist wie der bestehende Bahnhof. Und für ein Prestigeprojekt wäre auch Voraussetzung, dass Stuttgart in architektonischer und städtebaulicher Hinsicht einen neuen Bahnhof bekommt, der für Bewohner und Touristen eine Attraktion darstellt und der keine Kollateralschäden wie die Zerstörung der Mineralwasserquellen, Grundwasserstauungen und Wälle quer zum Talkessel beinhaltet. 

Stuttgart 21 ist in dieser Hinsicht gerade das Gegenteil eines Prestigeprojekts. Der neue Bahnhof kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht einmal die Verkehrsmengen abwickeln, die der bestehende Kopfbahnhof leisten kann. Und es wird doch niemand ernsthaft behaupten, dass der über die Geländeoberfläche hinausragende Kellerbahnhof mit seinen Schächten, die Augen sein sollen, eine architektonische und städtebauliche Wegmarke für Stuttgart darstellt.

Die zweite Merkwürdigkeit leitet sich aus einem Widerspruch ab. Einerseits wird beklagt, dass Stuttgart und Baden-Württemberg gerade im Wettbewerb mit anderen Regionen endlich einmal ein Highlight, ein Prestigeprojekt wie Stuttgart 21 benötigten. Andererseits haben dieselben Kreise und Interessengruppen, konkret die CDU und ihr Umfeld, Baden-Württemberg den größten Teil der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg regiert und sind somit für die Zustände hier in Baden-Württemberg konkret verantwortlich zu machen.

Immer wieder betonen die CDU und ihr Umfeld die gute wirtschaftliche Lage in BW und vergessen dabei nicht, dies mit ihrem Regieren zu verbinden. Dabei ist ein Zusammenhang zwischen der vergleichsweise guten wirtschaftlichen Situation in BW und der CDU-Regierung durch nichts zu belegen. Man könnte genauso gut sagen: der Wirtschaft in Baden-Württemberg geht es trotz jahrzehntelanger CDU-Regierung gut.

Dort jedoch, wo die Politik tatsächlich einen maßgebenden Einfluss hat, sieht es in Baden-Württemberg gar nicht so gut aus. Dazu gehört die Infrastruktur. 

Beispiel Autobahnen: kein anderes Flächenland in Deutschland hat so wenig Autobahnkilometer bezogen auf die Fläche bzw. auf die Einwohner wie Baden-Württemberg. Es geht hier jetzt nicht darum, über die Sinnhaftigkeit von Autobahnen zu diskutieren. Da kann man geteilter Meinung sein. Aber es geht darum darzulegen, wie die Defizite, die letztendlich zur Sehnsucht nach dem Prestigeprojekt Stuttgart 21 geführt haben, von denselben Leuten zu verantworten sind, die eben dieses Prestigeprojekt vorangetrieben haben und noch vorantreiben.

Beispiel städtische Schienensysteme: auch hier hat Baden-Württemberg wenig zu bieten. Stuttgart hat weder eine klassische U-Bahn noch ein klassisches Straßenbahnnetz, sondern irgendetwas dazwischen, das sich Stadtbahn nennt und das - wenn man böswillig ist - die Nachteile der U-Bahn und der klassischen Straßenbahn vereinigt. Die Züricher sind stolz auf ihr Tram. Auf vielen Touristen-Postkarten in Zürich ist das Tram abgebildet. Es ist ein Bestandteil der Stadt. Auch in München ist die U-Bahn ein Markenzeichen. Die Weltstadt München ohne U-Bahn ist heute undenkbar. In Stuttgart weiß die Mehrzahl der Einwohner nicht einmal, dass das städtische Verkehrsmittel Stadtbahn heißt. Und während des 10 minütigen Wartens auf die nächste Bahn beim Umsteigen in wenig schönen unterirdischen Haltestellen vollbringt man gedankliche Höchstleistungen beim Ausdenken einer besseren Route für die nächste Fahrt.

Beispiel Flughafen: Baden-Württemberg ist von Groß- und Weltstadtflughäfen (Frankfurt, München, Zürich) umgeben, die ein Vielffaches der Passagierzahlen und Flugbewegungen aufweisen wie der Landesflughafen Stuttgart. Ist das ein naturgegebener Fakt, den man nicht ändern kann? Oder zeigen sich darin jahrzehntelange Versäumnisse der Landesregierung?

Beispiel Städtebau in Stuttgart: Legt man Reiseführer gleicher Aufmachung über Stuttgart, über München, über Frankfurt, über Zürich, über Nürnberg und über Straßburg nebeneinander, wird man feststellen, dass der Reiseführer über Stuttgart der dünnste unter diesen Führern ist und dass es in Stuttgart am wenigsten historische und sehenswerte Gebäude unter allen diesen Städten gibt. Auch Stuttgart wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich von Bürgermeistern regiert, die der CDU nahestanden oder Mitglied der CDU waren und sind. Der noch amtierende OB Schuster hat nichts unternommen, um die städtebauliche Bedeutung Stuttgarts zu erhöhen. Mit seinem gescheiterten Projekt des Trump-Tower am Pragsattel wollte er Frankfurt ein wenig nacheifern. Und der gläserne Kubus des Kunstmuseums am Schlossplatz ist ja zu beliebig und zu unscheinbar, um irgendeine überregionale Bedeutung zu erlangen. Das letzte neue Gebäude von überregionaler Bedeutung in Stuttgart war die Neue Staatsgalerie, erbaut in den Jahren 1979 bis 1984.  

Beispiel Nationalpark: Ja, auch dies ist ein Teil moderner Infrastruktur. Baden-Württemberg läuft Gefahr, in Kürze die einzige Region in Europa zu sein, die keinen Nationalpark besitzt. Erst der Regierungswechsel im März 2011 hat jetzt das Tor für die Schaffung eines ersten Nationalparks geöffnet.

Und so könnte man die Aufzählung noch fortsetzen. Aber jetzt wird die ganze Tragik und Ironie hinter der Stuttgart 21-Propaganda sichtbar. Die CDU, die das Land BW jahrzehntelang regiert hat, hat bei der ureigenen staatlichen Aufgabe der Schaffung von Infrastruktur kläglich versagt. Und dieses Versagen will man jetzt mit dem Prestigeprojekt Stuttgart 21 wettmachen. Aber leider geht auch dieser Schuss nach hinten los. Mit Stuttgart 21 würde BW seine infrastrukturelle Rückständigkeit weiter verfestigen. 

Jetzt hilft nur noch die Flucht nach vorne. Und das heißt: sofortiger Stopp von Stuttgart 21. Statt dessen Entwicklung einer attraktiven Flächenbahn mit einem integralen Taktfahrplan. Nur so hat Baden-Württemberg noch die Chance, infrastrukturell aufzuholen, ohne die Fehler anderer Regionen zu wiederholen. Und so bietet sich für Baden-Württemberg auch die Chance, in Deutschland ein Alleinstellungsmerkmal bei der Infrastruktur zu erlangen und in der Attraktivität sich dem Nachbarland Schweiz anzunähern.

Die Bürgerinnen und Bürger von Baden-Württemberg haben dieses Ansinnen bei der Wahl im März 2011 klar zum Ausdruck gebracht. Die neue Regierung ist verpflichtet, entsprechend zu handeln.                   

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